WAZ: Berlin verliert die Führungsrolle. Leitartikel von Thomas Wels

Es ist atemberaubend, mit welcher Geschwindigkeit
Schwarz-Gelb jahrzehntelang geltende Werte beiseitefegt. Der
Beschluss, sich in der Libyen-Frage nicht an die Seite der westlichen
Allianz und arabischen Staaten, sondern an die Chinas und Russlands
zu stellen, ist eine verstörende Volte der Berliner Regierung – aber
mitnichten ihre erste.

Ob Euro, Energiepolitik oder Libyen – die Kanzlerin verliert sich
in einer sprunghaften Krisenpolitik, agiert wetterwendisch, offenbar
getrieben von der Sorge, innenpolitisch Macht einzubüßen. Eine klare
Linie, die dem Führungswillen und der Verantwortung eines der
stärksten Industrieländer entspricht, ist nicht erkennbar.

Der Bedeutungsverlust hat im Mai des vergangenen Jahres seinen
Lauf genommen. Im Gefolge der Euro-Rettungsaktionen zugunsten
Griechenlands und Irlands hat sich die Architektur der Währungsunion
gravierend geändert. Von der einstigen Stabilitätspolitik, die gerade
den Deutschen immer heilig war, ist kaum etwas geblieben. Keine
automatischen Strafen bei ausufernder Verschuldung, stattdessen der
Aufkauf von Staatsanleihen – die Währungsunion steht auf dem Kopf.

Die Kanzlerin als Getriebene. Noch offensichtlicher wird das in
der Sofortabschaltung von sieben Atommeilern. Zwischen „sicher“ und
„als Risiko nicht mehr tragbar“ lag eine Woche des Grauens, geprägt
von der Katastrophe in Japan. Merkel zog blank im Affekt. Auch wenn
andere Länder ihre Atomprogramme prüfen – so weit wie die
Bundesregierung ging keines. Eine solche Politik ist schwer
erklärbar, zumal, wenn sie in den Dauerbetrieb geht. Umweltminister
Röttgen findet, die Frage der AKW-Sicherheit unterliege der
gesellschaftlichen Bewertung, und die habe sich durch Japan
verändert. Wer so Politik macht, gibt Politik auf.

Und Libyen. Das Verhalten des Außenministers, der sich in Ägypten
nach dem Sieg der Opposition herzen, die Libyer in ihrer Not hängen
lässt, hat Folgen. Deutschland verabschiedet sich in
Lichtgeschwindigkeit aus der internationalen Führungsrolle.

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