WAZ: Die Helden des Alltags – Kommentar von Matthias Korfmann

Lili war sechs und freute sich auf die Schule. Auf
Mathe, Lesen, Schreiben und auf Sport mit anderen Kindern. Aber Sport
ging nur mit Schuhen mit weißer Sohle. Weil die Mutter die nicht
gleich kaufen konnte, blieb Lili auf der Bank sitzen. Und bekam von
Mitschülern einen Ruf verpasst: „Du bist ein Asi.“ Brigitte Mey hat
diese Geschichte erzählt. Sie leitet den Kindergarten St. Marien im
Essener Nordviertel. Sie und ihre Kollegen vom Kita-Zweckverband
kennen jede Menge dieser Geschichten. Man hört sie auch vielerorts in
Duisburg, Dortmund, Gelsenkirchen, sogar im reichen Düsseldorf.
Politik tut sich höllisch schwer damit, Armut zur Kenntnis zu nehmen.
Anders ist diese Trickserei, das Gerangel um Passagen in einem
Armutsbericht nicht zu erklären. Politik erzählt gern (die eigenen)
Erfolgsgeschichten, baut gern Leuchttürme, erklärt gern das Große und
Ganze, umgibt sich mit Starken, Geistreichen und Glücklichen. Diese
hässlichen Lili-Geschichten wollen wenige hören. Arme sind als Wähler
nämlich völlig uninteressant. Sie gelten als unpolitisch. Einige
Millionen Menschen in Deutschland fallen durchs Raster, sind
abgemeldet, dauerhaft abgehängt und womöglich auch noch selber
schuld, wie manche finden. Erzieherinnen wie Brigitte Mey gehören zu
jenen, die sich dennoch kümmern, die auch kleine Erfolge feiern und
niemals sagen würden: Wir brauchen fünf Prozent Wachstum. Das Kind
braucht erstmal Schuhe.

Pressekontakt:
Westdeutsche Allgemeine Zeitung
Zentralredaktion
Telefon: 0201 – 804 6519
zentralredaktion@waz.de