WAZ: Gut gemacht, Herr Präsident – Kommentar von Christian Kerl

Fast ein Jahr hat sich der Bundespräsident Zeit
gelassen mit seiner ersten großen Rede, aber das Warten hat sich
gelohnt: Joachim Gaucks Europa-Rede ist nun nicht nur eindrucksvoller
Beleg dafür, dass das Staatsoberhaupt seine Aufgabe als
Orientierungsgeber souverän auszufüllen vermag. Der Präsident hat
gezeigt, wie die Debatte über die Zukunft des Kontinents vom Kopf auf
die Füße gestellt werden kann: Gauck hat aus der Perspektive der
Bürger über Europa gesprochen, ohne das übliche Pathos, ohne
visionäre Schlagworte, aber dafür mit echter Überzeugung. Ja, es
lässt sich also über den unschätzbaren Wert der europäischen Idee
reden, ohne in die süße Frieden-Freiheit-Wohlstand-Rhetorik zu
verfallen. Man kann auch trotz der Schuldenkrise ein
leidenschaftliches Bekenntnis zu mehr Europa abgeben – und gleichwohl
offen die Fehler benennen, die etwa bei der Erweiterung der Union
oder bei der Euro-Einführung passiert sind. Die Vertrauenskrise, die
Gauck zu Recht beklagt, hängt ja nicht nur mit dem stolpernden
Euro-Krisenmanagement zusammen. Das Misstrauen wächst, weil sich ein
Teil der EU-Politik mit dröhnendem Europa-Pathos gegen jede Kritik
immunisiert hat – und den Bürger mit dem Gefühl zurücklässt, er sei
bei alldem nicht mehr gefragt. Gauck hat diesen Unmut klug
aufgenommen. Aber er ist dabei nicht stehen geblieben. Sein Plädoyer,
mehr Europa brauche mehr Vertrauen, zielt auf die Bequemlichkeit auch
der deutschen Politik, die um dieses Vertrauen nicht wirbt. An mehr
Zusammenarbeit etwa in der Wirtschafts- oder Außenpolitik, an
weiteren Kompetenzen für Brüssel führt kein Weg vorbei. Hinter den
Kulissen wird daran gearbeitet. Im Gegenzug könnten andere Aufgaben
an die Mitgliedsstaaten zurückgegeben werden. Nur: Im Wahljahr scheut
die Politik jede Diskussion darüber – aus Sorge, Wähler zu
verunsichern, aus Angst, Farbe bekennen zu müssen, herrscht zu den
Plänen für Europas Zukunft Schweigen. Zu Recht fordert Gauck jetzt
Mut und Gestaltungswillen: Eine breite Debatte über das künftige
Europa ist überfällig. Gauck hat sie eröffnet, einfühlsam und doch
mit Zuversicht. Gut gemacht, Herr Präsident!

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