Weser-Kurier: Der „Weser-Kurier“ (Bremen) kommntiert in seiner Ausgabe vom 9. März 2012 den Großen Zapfenstreich für den scheidenden Bundespräsidenten Christian Wulff:

Gespenstische Zeremonie

von Joerg Helge Wagner

Doch, doch, das passt schon: Historisch bedeutet der Zapfenstreich
nämlich, dass der Spaß vorbei ist. In den Feldlagern der
Landsknechtsheere wurden mit dem abendlichen Zeremoniell die
Zapfhähne an den Fässern geschlossen; den Kriegern wurde Nachtruhe
befohlen. Und in die politische Nachtruhe musste sich gestern ja auch
Christian Wulff begeben – freilich nicht, um Kraft für neue
Schlachten zu sammeln, sondern um möglichst dauerhaft unter dem
gnädigen Mantel der Geschichte zu verschwinden. Aber der einzige
Zweck des Zapfenstreichs in seiner heutigen Form ist doch eine große
Ehrenbezeugung – und der Abgang Wulffs aus dem höchsten Staatsamt war
ja nun alles andere als ehrenvoll. Stimmt, aber der Zapfenstreich ist
kein Zeugnis. Das Zeremoniell ist nicht an eine Person, sondern an
Ämter gebunden: Nur Bundespräsidenten, Bundeskanzler und
Verteidigungsminister können damit verabschiedet werden, weil
aufgrund ihrer Ämter eine besondere Verbundenheit mit den
Streitkräften vorausgesetzt wird. Ob das der Wirklichkeit entspricht,
darf freilich bezweifelt werden. Die meisten Kanzler und
Bundespräsidenten haben mit dem Militär eher gefremdelt; Helmut
Schmidt und Karl Carstens waren Ausnahmen. Und die mit Zapfenstreich
verabschiedeten Verteidigungsminister Scharping und Jung scheiterten
nicht zuletzt deshalb in ihren Ämtern, weil sie gar keinen Bezug zur
Bundeswehr hatten. Skandalminister Franz-Josef Strauß wiederum
bescherte der Luftwaffe mit dem Starfighter Verlustzahlen wie im
Krieg. Zu Recht blieben die Sozialdemokraten schon 1962 dem
abendlichen Militärspektakel zu seinem Abschied fern. Um den
Zapfenstreich als politisches Ritual in Frage zu stellen, brauchte
man wirklich nicht auf Christian Wulff zu warten. Da man es aber
getan hat, gab es keinen Grund, ihm das weitgehend sinnentleerte
Ritual zu verweigern. Man muss ihm eher schon Masochismus
unterstellen, weil er darauf beharrte. Sämtliche Amtsvorgänger hatten
ihre Teilnahme abgesagt, ebenso alle Vizepräsidenten des Bundestages,
alle Inspekteure der Teilstreitkräfte, der Präsident der
Verfassungsgerichts, die Botschafter unserer größten Nachbarstaaten,
die komplette politische Opposition. Damit war der gestrige Akt eines
ganz sicher nicht: eine Ehrenbezeugung oder gar Rehabilitation der
Person Wulff. Er war vielmehr auf gespenstische Art angemessen.

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