Westdeutsche Zeitung: Rot-Grün nutzt erstmals seine Mehrheit im Bundesrat – Ein (fast) wertloser Triumph Ein Kommentar von Martin Vogler

Rot-Grün hat im Bundesrat die Muskeln spielen
lassen und ein Stück Wahlkampf inszeniert. Dank der neuen
Mehrheitsverhältnisse gelang es der Opposition, den Beschluss für
8,50 Euro Mindestlohn zu stemmen. Doch auch im Triumph war ihr klar:
Dieser Sieg ist real wenig wert, weil es auf den Bundestag ankommt,
in dem Schwarz-Gelb die Nase vorne hat. Wenn also gestern
NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider (SPD) das Geschehen als
„historische Entscheidung“ einordnete, kann man das mit Blick auf den
Wahlkampf geschickt finden – oder auch ein wenig albern.

Nicht faktisch, aber zumindest taktisch, bringt die ungewohnt
brisant geratene Bundesratssitzung die Opposition in eine gute
Position. Dass auch das von einer CDU-Ministerpräsidentin geführte
Saarland für den Mindestlohn stimmte, lässt aufhorchen. Doch Annegret
Kramp-Karrenbauer schien keine andere Wahl zu haben, weil sie an eine
entsprechende Formulierung in ihrem Koalitionsvertrag mit der SPD
gebunden ist. Dennoch ist das Votum des Saarlands ein für Union und
FDP schlechtes Signal. Die Mindestlohn-Sympathisanten in ihren Reihen
könnten sich ermutigt fühlen. Allerdings wird der Bundestag wohl vor
der Wahl nicht darüber abstimmen. Angela Merkel und ihre Getreuen
werden dies mit geschickter Verzögerungstaktik verhindern.

Es wird in den nächsten sieben Monaten beim Mindestlohn keine
echte Weichenstellung geben. Stattdessen viel nervige Propaganda im
Wahlkampf. Emotion pur also statt Sachlichkeit, die für dieses Thema
angemessen wäre. Denn es geht um viel. Vor allem die 2,5 Millionen
Menschen, die weniger als sechs Euro verdienen, warten sehnlich auf
eine Verbesserung ihrer Situation. Unsere Gesellschaft sollte es
wirklich schaffen, dass jede Vollzeitkraft auch von ihrem Einkommen
leben kann.

Allerdings darf für dieses Ziel ein dirigistisches Eingreifen des
Staates nur das letzte Mittel sein, nachdem alle anderen Instrumente
ausgereizt sind. So sollten sich die Tarifparteien anstrengen, um
eine für Arbeitgeber und Arbeitnehmer erträgliche Lösung zu finden.
Auch die künftig sinkende Zahl der Erwerbstätigen könnte dazu führen,
dass Unternehmen von sich aus höhere Löhne bieten, um gute
Mitarbeiter zu finden und zu halten.

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