Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel „Mittelbayerische Zeitung“ (Regensburg) zu Bürger-Online-Forum

Das Jahr 2010 könnte als Jahr des
„Dagegen-Bürgers“ in die Annalen eingehen. Gegen das Bahnhofsprojekt
Stuttgart 21 richtete sich wütender Protest. Zehntausende Menschen
gingen gegen Atomkraft, neue Autobahnen, Stromtrassen oder
Mobilfunkmasten auf die Straße. Und „Wut-Bürger“ wurde zum Wort des
Jahres gekürt. Es schien, als sei die Kluft zwischen Regierenden und
Regierten, zwischen „denen da oben“ und „uns hier unten“ noch nie so
groß. Doch abseits dieser griffigen Schwarz-Weiß-Klischees gibt es
viel mehr, was Wähler und Gewählte verbindet. Die parlamentarische
Demokratie ist eine schwierige Operation, die immer wieder neu
gewonnen und neu ausgeführt werden will. Sie ist ebenfalls keine
Einbahnstraße, sondern eine quirlig belebte Straßenverbindung, auf
der der Verkehr nicht nur zügig rollt, sondern auch einmal staut.
Demokratie heißt auch Veränderung, Anpassung. Und Routine,
formalisierte Abläufe führen nicht selten zum Tod von Demokratie,
zumindest zur Aushöhlung. Bundespräsident Christian Wulff, der sich
anschickt aus dem Schatten seines unrühmlich abgetretenen Vorgängers
Horst Köhler zu treten, hat gestern in Berlin das Projekt eines
Bürger-Forums via Internet auf den Weg gebracht. Er hilft damit einem
zeitgemäßen Dialog-Forum auf die Beine, das bereits Köhler geplant
hatte. Bürger sollen schnell und jederzeit ihre Meinung zu
gesellschaftlichen Themen einbringen, sollen kritische Fragen und
Einwände vorbringen und Alternativen vorschlagen können. Eine Art
ständige Online-Bürgerversammlung also, ein Chatroom der Demokratie
sozusagen. Es ist ein Experiment, mit dem neuen Medium des modernen
Kommunikationsnetzes Demokratie auf mehr Schultern und an mehr Köpfe
zu verteilen. Ein Experiment gewiss, doch man sollte es ausprobieren.
Wo – mehr oder weniger sinnvoll – gemailt, gechattet, gesimst oder
getwittert wird, kann ein Dialog-Chat in Sachen Demokratie nicht
schaden. Als Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß hat
der Philosoph Max Weber einst die Politik beschrieben. Politik und
Demokratie sind enge Verwandte. Und sie brauchen nicht nur regelmäßig
Wahlen, nicht nur das Streiten der Parteien um Wählerstimmen und das
bessere politische Konzept, sondern sie brauchen vor allem Mitmacher
und Mitmachen. Ein Irrtum in unserer parlamentarischen Demokratie ist
etwa das Bild vom Bürger, der am Wahltag seine Stimme abgibt. So, als
habe er sie in der Wahlurne beerdigt, zumindest für vier oder fünf
Jahre, bis er (der Bürger oder die Bürgerin) wieder zur Wahl
aufgerufen wird. Doch so funktioniert Demokratie schon lange nicht
mehr, erst recht nicht im Internet-Zeitalter, wo der Bürger nur einen
Mausclick von den Regierenden entfernt ist. Der mitunter
leidenschaftliche Streit um große politische Grundfragen, um
Atomkraft oder Bundeswehr, um Rente oder Gesundheitspolitik, oder der
Streit um die nicht minder bewegenden Probleme vor der eigenen
Haustür, um die Umgehungsstraße, das neue Parkhaus oder die
Öffnungszeiten des Amtes, verlangen geradezu nach Bürgerbeteiligung.
Im Großen wie im Kleinen. Und zwar nicht nur mit den Instrumenten der
letzten Jahrzehnte, sondern auch mit den Mitteln des flinken
Datennetzes. Aber damals wie heute sind das Mitgestalten- und
Verändern-Wollen Grundvoraussetzungen unserer lebendigen Demokratie.
Wulffs Online-Bürgerforum wird unsere Demokratie nicht umkrempeln, es
könnte sie allerdings etwas entstauben, zeitgemäßer machen. Das wäre
schon eine ganze Menge.

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