BERLINER MORGENPOST: Kommentar zum Exportschlager „German Angst“

Lange sind die Deutschen belächelt worden, weil sie
es so bitter ernst meinen mit dem Umweltschutz, der Klimarettung und
natürlich der Atomenergie, die als Teufelszeug einem Glaubenskrieg
ähnlich bekämpft wird. „Le Waldsterben“ spotteten die Franzosen
einst, als sich in den 80er-Jahren wegen der Autoabgase die Sorgen um
den deutschen Wald kumulierten. Oder das Unverständnis vieler unserer
Nachbarn über „German Angst“, wenn das Thema auf neue Technologien
kommt. Auf die Kernenergie etwa. Die ist zwar nicht neu. Aber in
keinem anderen Industrieland der Welt stößt Strom aus Kernreaktoren
schon seit Jahrzehnten auf so starken – auch ideologisch aufgeladenen
– Widerstand wie in Deutschland. Dabei war und ist vieles zweifellos
übertrieben, manche Reaktionen grenzen an Hysterie. Aber in diesen
Tagen, da das Unvorstellbare und von allen „Experten“ Geleugnete in
Japan zur nicht mehr beherrschbaren schrecklichen Realität wird,
erstarrt den Kritikern das Lächeln auch über die deutschen
Anti-AKW-Fundamentalisten. Die Katastrophe in den Reaktorblöcken von
Fukushima dokumentiert, dass „German Angst“ eben doch nicht nur eine
spleenige deutsche Befindlichkeit ist. Die Sorge darüber, dass die
Kernreaktoren in aller Welt keineswegs so sicher sind, wie bislang
von Betreibern und Regierenden wieder und wieder beteuert wurde,
wächst nun selbst in den Ländern, die alles energiepolitische Heil in
der Atomkraft suchen. In Frankreich etwa gewinnen die bislang kaum
wahrnehmbaren AKW-Gegner den lang ersehnten Zulauf, die Grünen
fordern bereits eine Volksabstimmung über die Atompolitik Sarkozys.
Die Europäische Union will alle 143 Atomkraftwerke in ihrem
Zuständigkeitsbereich einem umfangreichen Sicherheitstest
unterziehen. Auftrieb auch für die Zweifler in Amerika. Trotz der
Unterstützung durch Präsident Obama und kräftiger finanzieller
Förderung kommt der geplante Ausbau der Kernenergie nicht voran. Die
Katastrophe von Fukushima wird die Kritiker im Kongress und in den
Umweltverbänden weiter stärken. Die schärfste Wende wird aus China
gemeldet. Peking erteilt vorerst keine Genehmigungen für neue
Kernkraftwerke, alle 27 im Bau befindlichen sollen einem umfassenden
Sicherheitstest unterzogen werden. Da sage noch einer, die Deutschen
stünden allein mit ihrer Angst. Das Nukleardrama so nah an der
Millionenmetropole Tokio wird die Welt verändern. Vor allem
energiepolitisch wird nichts mehr so sein wie vor dem
11.März. Die friedliche Nutzung der Kernenergie hat für
jedermann sichtbar endgültig ihre Unschuld verloren. „German Angst“
war und ist also doch nicht völlig grundlos. Unsere Nachbarn in nah
und auch ganz fern beginnen, das zumindest in Bezug auf die Kernkraft
zu verstehen. So verständlich wie berechtigt die Sorgen, so wenig
hilfreich ein nationaler Alleingang. Das erlebt Österreich mit seinem
rigiden Anti-Atom-Kurs. Per Volksabstimmung ist die Alpenrepublik
seit 30 Jahren eine AKW-freie Zone. Doch die Österreicher müssen
weiter mit der Angst vor dem GAU leben. Die grenznahen Kraftwerke in
Deutschland, Slowenien, Tschechien, Ungarn und der Slowakei gelten
schon lange nicht mehr als die sichersten. Über „German Angst“ wird
man wohl nicht mehr spotten.

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