Mit dem Wort historisch gehen Politiker oft
fahrlässig um. Anders verhält sich das im Fall des Wahlausgangs in
Baden-Württemberg. Wenn der Spitzenkandidat der Grünen, Winfried
Kretschmann, angesichts seines Erfolges von einer „historischen
Zäsur“ spricht, dann stimmt das voll und ganz. Kretschmann dürfte
aller Wahrscheinlichkeit nach der erste Grünen-Politiker sein, der
das Amt eines Ministerpräsidenten ausübt.
An solch eine Entwicklung, bei der die Grünen sogar die SPD
überflügeln, war bis vor einigen Monaten kaum zu denken. Das
Parteiensystem Deutschlands muss neu bewertet werden. Denn der
Vorgang hat eine deutlich andere Qualität als die einstige
schwarz-grüne Koalition in Hamburg oder das bislang unspektakuläre
Jamaika-Bündnis an der Saar. Im Fall Baden-Württemberg geht es um die
Hauptverantwortung in der künftigen Regierung und um einen radikalen
Bruch mit der angestammten bürgerlichen Macht.
Der Triumph der Grünen im Südwesten sagt viel über die politische
Stimmung in ganz Deutschland aus – vor allem nach der
Erdbebenkatastrophe in Japan, die einen atomaren Gau nach sich ziehen
kann. Die dramatischen Ereignisse in Japan haben zwar auch bei der
Südwest-CDU und in den Reihen der schwarz-gelben Berliner
Regierungskoalition zu einem Umdenken geführt. Doch Kanzlerin Merkel
und Co. hatten in der Atom-Politik schon einen fundamentalen
Glaubwürdigkeitsverlust erlitten. Spätestens seit ihrem Ausstieg aus
dem Atom-Ausstieg im Herbst mit wieder verlängerten AKW-Laufzeiten,
konnten Union und FDP auch nicht mit dem Reden von der Kernkraft als
Brückentechnologie überzeugen. Das hat Konsequenzen für das Ansehen
der gesamten Regierungsarbeit, ihrer Vertreter und der beteiligten
Parteien.
Freilich standen in Baden-Württemberg die Zeichen schon einmal
deutlich auf Wechsel – nämlich im Zuge der breiten Bürgerproteste
gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, an dessen Spitze auch die
Grünen standen. Hier konnte die CDU unter Stefan Mappus zwar
nachträglich wieder Boden gutmachen. Doch all der Groll dürfte sich
wieder entladen haben, als die Atom-Politik beherrschend wurde. In
Baden-Württemberg waren Landes- und Bundespolitik in seltener
Verquickung entscheidend für ein Ergebnis, das historisch ist.
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