BERLINER MORGENPOST: Als gäbe es keinen Atomausstieg – Leitartikel

Es passieren gelegentlich epochale Dinge in diesen
bewegten Zeiten, die wegen der vielen Aufgeregtheiten weit und breit
nahezu untergehen im reißenden Strom der Neuigkeiten. In dieser Woche
zum Beispiel hat ein grüner Politiker gesagt, dass es gar nicht mehr
nötig sei, gegen die Castor-Transporte ins Wendland zu protestieren.
Nicht irgendein Grüner, sondern Winfried Kretschmann, der
baden-württembergische Ministerpräsident; der derzeit neben Jürgen
Trittin vermutlich einflussreichste Grüne überhaupt. „Protest macht
jetzt eigentlich keinen Sinn mehr.“ Das ist ein Satz, den man sich im
Zusammenhang mit der Nutzung der Atomkraft, einer zentralen Wurzel
der grünen Bewegung, vor einem Jahr nicht hätte vorstellen können. Es
geht vieles wirklich sehr zügig in diesen Zeiten. Und vielleicht muss
man deswegen auch Milde walten lassen mit den vielen Menschen im
niedersächsischen Wendland, die an diesem Wochenende wieder so tun,
als sei gar nichts geschehen. Als gäbe es keinen Atomausstieg, als
gäbe es keine komplette Kehrtwende der schwarz-gelben Regierung. Als
wäre die Sorge mancher bayerischer oder baden-württembergischer
Bürgermeister, der Atommüll würde womöglich eines Tages doch noch bei
ihnen landen, völlig aus der Luft gegriffen. Und doch ist es ja so:
Die Suche nach einem Endlager hat neu begonnen. Selbst in der Union
weiß inzwischen jeder, dass ein solcher Ort nicht mehr benannt werden
kann ohne ein transparentes Verfahren, das die Menschen mitnimmt auf
einen Weg, der ja gegangen werden muss. „Irgendwo muss das Zeugs
hin“, hat Winfried Kretschmann hinzugefügt. Und auch dieser Satz ist
so richtig, wie er kurz ist. Wir alle tragen Verantwortung dafür,
dieses sehr gefährliche Material auf Generationen und
Abergenerationen sicher zu verwahren. Dagegen kann man nicht mehr
protestieren. Das muss man tun. Eine Einsicht, die vielen
schwerfällt. Wer mit Anti-Atomkraft-Aufklebern groß geworden ist, wer
in Gorleben die „Republik Freies Wendland“ gegründet hat, wessen
Weltbild das sture Durchsetzen einer eben nicht hundertprozentig
sicher handhabbaren Energieform entscheidend geprägt hat, der kann
nicht einfach kehrtmachen. Also ruft die Parteitagsregie trotz
Kretschmanns weiser Erkenntnis zur sonntäglichen Fahrt ins Wendland.
Also verharrt die Antiatomkraftbewegung in den längst verinnerlichten
Reflexen, also spielt man rund um Gorleben wieder Katz und Maus an
diesem Wochenende. Also hält man das Bild vom fiesen Atomstaat am
Leben. Es war schon immer leichter, mit dem Finger auf andere zu
zeigen, als sich selbst zu überprüfen. Menschliche Schwäche, auch
gespeist aus schlechter Erfahrung. Es wäre dennoch gut, wenn man den
Zufall, dass der aktuelle Atomtransport von La Hague nach Gorleben
der letzte dieser Art ist, auch im Wendland zum Anlass nehmen könnte,
Abschied zu nehmen von den alten Schützengräben. Die drei, vier Jahre
sinnvoll zu nutzen, ehe die letzten beiden Castor-Fuhren aus dem
englischen Sellafield ins Wendland gefahren werden. Vielleicht kann
man bis dahin neue Formen finden. Vielleicht kann dann ein großes
Endlager-Forum den Transport begleiten, der Versuch, wirklich
gemeinsame Lösungen zu finden. Und nicht Protest und Gewalt und
Gelegenheit, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen.

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