NRZ: Menschen zweiter Klasse – ein Kommentar von JAN JESSEN

Das Grundgesetz enthält viele Regelungen, die in
ihrer Einfachheit und Klarheit unmissverständlich sind. Die Würde des
Menschen ist unantastbar. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
Niemand darf wegen seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft benachteiligt oder bevorzugt werden. Für
Flüchtlinge galten diese Regelungen in den vergangenen 20 Jahren
nicht. Sie wurden als Menschen zweiter Klasse behandelt; das
sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz soll eine abschreckende
Wirkung haben, weswegen es Flüchtlinge mit staatlichen Leistungen
abspeist, die weit unter dem Existenzminimum für Deutsche liegen. Das
Bundesverfassungsgericht hat das jetzt mit deutlichen Worten für
Unrecht erklärt. Gut so!

Am generell beschämenden Umgang mit Flüchtlingen ändert der
Karlsruher Richterspruch allerdings nichts. Zu Erinnerung: Anfang der
neunziger Jahre kamen viele Hunderttausend Menschen nach Deutschland,
vor allem vom Balkan. Dort herrschte Krieg. Der deutsche Mob
reagierte mit rassistischen Pogromen gegen Ausländer jedweder
Herkunft, in Hoyerswerda, in Rostock-Lichtenhagen, mit mörderischen
Brandanschlägen in Mölln und Solingen. Der deutsche Bundestag
reagierte mit radikalen Einschränkungen des Asylrechts. Flüchtlinge,
die über sichere Drittstaaten nach Deutschland einreisen (das sind
alle Nachbarländer), werden seitdem nicht mehr als Asylberechtigte
anerkannt. Flüchtlinge dürfen nur in seltenen Ausnahmefällen
arbeiten, sie dürfen den Bezirk oder Landkreis nicht verlassen, in
dem sie gemeldet sind.

Heute trägt Deutschland aktiv dazu bei, dass die Mauern der
Festung Europa undurchdringbar werden; die EU handelte seinerzeit
sogar mit Libyens Ex-Machthaber Gaddafi (das war, bevor er in Ungnade
fiel) ein Abkommen aus – seitdem werden schwarzafrikanische
Flüchtlinge dort in Lagern von Europas Grenzen ferngehalten. Und
jedes Jahr ertrinken Hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer, ohne dass es
irgendwen groß interessiert.

Kurzum: Es besteht in Flüchtlingsfragen weit mehr Handlungsbedarf
als „nur“ die Anhebung staatlicher Leistungen. In Deutschland wird
immer wieder gerne über „christliche Leitkultur“ fabuliert; es wäre
wohl im christlichen Sinne, wenn für Flüchtlinge wenigstens das
Grundgesetz gelten würde.

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