NRZ: Manche Wunden heilen nicht – ein Kommentar von JAN JESSEN

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. In zwanzig
Jahren können viele Wunden heilen. Manche heilen nicht. Die Bilder
von den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen lösen auch heute noch
Entsetzen aus. Ja, es ist wirklich geschehen, dass in Deutschland
normale Bürger applaudierten, als ein entfesselter Mob seinem
Fremdenhass und seiner Menschenverachtung freien Lauf ließ; als
beinahe Menschen ermordet wurden. Und es ist wirklich geschehen, dass
der Staat sich feige wegduckte und die Politik mit den
Ausschreitungen von Rostock die faktische Abschaffung des Grundrechts
auf Asyl rechtfertigte. Die Zeiten haben sich geändert. Heute kommen
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nur noch selten so plump und
obszön daher wie damals, als Menschen sich trauten, ihre Wut nicht
vor Kameras und Mikrofonen zu verbergen. Dass Deutschland ein
Einwanderungsland ist, haben viele Bürger akzeptiert. Satte
Selbstzufriedenheit ist dennoch fehl am Platz. Aus vielen Köpfen ist
Ausländerfeindlichkeit nicht gebannt, trotz aller Initiativen, trotz
aller politischen Appelle. Nicht von ungefähr wurde Thilo Sarrazin
als Tabubrecher gefeiert. Die Abgrenzung zwischen denen, die hier
ihre Wurzeln haben und denen, die eingewandert sind, ist in den
vergangenen Jahren teils schärfer geworden – und die wachsende Angst
vor der Zukunft birgt die Gefahr zunehmender Ablehnung des Fremden.
Wieviel noch im Argen liegt, hat sich besonders augenfällig daran
gezeigt, dass es zwanzig Jahre gedauert hat, bis das
Bundesverfassungsgericht erkannt hat, dass Flüchtlingen ein
menschenwürdiges Existenzminimum zusteht. Der Gesetzgeber hat es
nicht für nötig befunden, an diesem unhaltbaren Zustand von selbst
etwas zu ändern. Manchmal ist es gut, wenn Wunden nicht heilen und
auch nach zwanzig Jahren schmerzen.

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