WAZ: Die Mängel waren bekannt – Leitartikel von Christopher Onkelbach

Auf Anfrage erhält man vom Geoforschungszentrum
Potsdam eine Karte von Deutschland. Sie zeigt in verschiedenen Farben
die gefährlichen Erdbebenzonen an. Vor allem im Südwesten zeigt die
Karte gelbe, orange, ja sogar rote Bereiche. Und dort liegen die
Atomkraftwerke Gundremmingen, Neckarwestheim, Philippsburg und
Biblis. Es war alles bekannt. Der Bericht der EU bietet in diesem
Punkt also wenig Neuigkeiten. Auch die bestehenden Sicherheitslücken
in den europäischen Atommeilern waren kein Geheimnis, die
Internationale Atomenergiebehörde kennt die Fakten zu jedem einzelnen
Kraftwerk. Gleichwohl sehen diese Mängel vor dem Hintergrund der
Fukushima-Katastrophe neu und alarmierend aus. Zehn bis 25 Milliarden
Euro seien nötig, um die Kraftwerke auf den neuesten Stand zu
bringen. Wer will das investieren? Weltweit sinkt der Anteil des
durch Kernspaltung produzierten Stroms. 2011 wurden 19 Anlagen
endgültig abgeschaltet, nur sieben neue Reaktoren gingen in Betrieb,
listet der neue Welt-Status-Report für die Nuklearindustrie auf.
Selbst China, das Land mit den ehrgeizigsten Ausbauplänen, hat nach
Fukushima viele neue Projekte eingefroren. Die nackten Zahlen
belegen: Von einer Renaissance der Atomkraft kann keine Rede sein.
Der Mängelbericht der EU lässt sich als Sammlung von Argumenten
lesen, die Energiewende weiter zu beschleunigen. Der entscheidende
Punkt aber ist: Die Europäische Union verfügt über keine Instrumente,
die Beseitigung der Mängel auch durchzusetzen. Während ein Atomunfall
in Europa keine nationale Angelegenheit bleiben würde, liegt die
Atomaufsicht weiterhin in den Händen der Nationalstaaten. Einige
Staaten – Deutschland, Österreich, Schweiz – verzichten auf
Kernenergie, die meisten anderen Länder aber planen, ihre Kraftwerke
so lange wie möglich laufen zu lassen. Der Mängelbericht hat daher
mehr eine Appell- und Warnfunktion. Doch auch das kann Wirkung
entfalten, denn die Öffentlichkeit reagiert bei diesem Thema sehr
sensibel.

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