Mittelbayerische Zeitung: Heuchlerische Debatte Das Mahnmal für die Sinti und Roma erinnert an den Völkermord. Über täglichen Rassismus redet keiner. Von Norbert Mappes-Niediek

Könnte man heute eine Rede zum Völkermord an
den Juden halten und morgen nach Moskau fliegen, um den russischen
Präsidenten davon zu überzeugen, dass er keine russischen Juden nach
Deutschland reisen lässt? Nein, das könnte man glücklicherweise
nicht. Man kann aber heute ein Denkmal für die ermordeten Sinti und
Roma einweihen und morgen zu einem EU-Gipfel reisen und dort – wegen
der vielen von dort kommenden Roma – den Beitrittskandidaten Serbien
und Mazedonien mit der Wiedereinführung der Visumpflicht drohen. Sind
Roma Opfer zweiter Klasse? Fühlen wir uns ihnen nicht verpflichtet?
Wollen wir aus dem Völkermord an ihnen keine Lehren ziehen? Wir haben
aus der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der deutschen Sinti und
der osteuropäischen Roma tatsächlich nicht die richtigen Lehren
gezogen. Das gilt aber nicht nur für die „pragmatische“ (und
zunehmend erweiterungsskeptische) Bundesregierung, sondern auch für
reuige Öffentlichkeit. Die Sinti und Roma wurden unter den Nazis aus
zwei Gründen verfolgt: aus rassischen und aus sogenannten
„ordnungspolitischen“. Zum einen waren sie Opfer der Vorstellungen
von „Rassereinheit“ und genetisch höher- und minderwertigen Völkern.
Zum anderen hatten die Nazis aber auch die strengen, oft zwanghaften
Ordnungsvorstellungen der Kaiserzeit geerbt und radikalisiert. Die
„Landfahrerverordnungen“, Polizeischikanen und Ausweisungsbeschlüsse
des 19. Jahrhunderts richteten sich nicht speziell gegen
„Fremdvölkische“, sondern allgemein gegen Arme. Arme sammeln Schrott,
ziehen mangels Bleibe umher, betteln, bauen sich Hütten ohne eine
Baugenehmigung; das alles durfte – und darf – nicht sein. Die
rassische Diskriminierung ist heute verpönt, aber der Affekt gegen
die Armen steht in voller Blüte. Wenn 60 Prozent der Deutschen keine
Roma als Nachbarn haben wollen, so hoffentlich nicht deshalb, weil
die Deutschen so rassistisch wären. Unsere Städte sind bunt geworden,
und wegen seines dunkleren Teints fällt man nicht mehr besonders auf.
Man will aber nicht mit einer Familie auf der Etage wohnen, die von
den Verhältnissen zu zehnt in eine Dreizimmerwohnung gezwungen ist
und sich den Lebensunterhalt mit Müllsammeln verdienen muss. Für das
soziale Problem und für die Schwierigkeiten eines solchen
Zusammenlebens hat niemand eine Lösung. An dieser Stelle kommt der
verpönte Rassismus durch die Hintertür wieder herein. Mit dem
Phänomen Armut wollen wir uns nicht auseinandersetzen. Die einen
finden es bequem, die Armut mit den „kulturellen“ Eigenschaften der
Roma zu erklären; wenn in jüngster Zeit den Roma von wahnwitzigen
Forschern und populistischen Autoren mindere Intelligenz zugesprochen
wird, darf man mit Fug und Recht auch wieder von Rassismus sprechen.
Die anderen prangern die mangelnde Toleranz der Mehrheit an. Wenn
aber die Armut das größte Problem der südosteuropäischen Roma ist,
die in unsere Städte kommen, dann ist nicht Toleranz gefragt. Armut
gehört bekämpft, nicht toleriert. Man bekämpft sie auch nicht, indem
man die Armen bekämpft, wie es deutsche Regierungen bis in die 1960er
Jahre getan haben und wie es jetzt wieder Mode wird. Das
„ordnungswidrige“ Verhalten der Opfer ist bei näherem Hinsehen nicht
Ausfluss einer besonderen Kultur, sondern bloß Überlebensstrategie;
niemand bettelt aus Berufung. Damit Menschen nicht zur Entwicklung
solcher Strategien gezwungen sind, muss man ihre Grundbedürfnisse
erfüllen. Jeder in der EU, ob Roma oder nicht, soll genug zu essen
haben. Jeder braucht in unseren Breiten ein Dach und eine heizbare
Wohnung, und jeder muss sich die Busfahrkarte leisten können, um sein
Kind zur weiterführenden Schule zu schicken. Wenn es um Roma geht,
wird in ganz Europa tüchtig geheuchelt. Die westeuropäischen
Innenminister tun so, als wollten sie den Betroffenen helfen und
mahnen die Osteuropäer ständig, sie sollten ihr „Roma-Problem“ lösen
und die Menschen nicht länger diskriminieren. Dabei übersehen sie
geflissentlich, dass hier nicht ein ominöses „Roma-Problem“ zu lösen
ist, sondern eine Herkulesaufgabe wartet: Seit 1990 sind ganze
Landstriche verödet, Millionen Menschen, so gut wie alle Roma, aber
auch viele andere, in eine sich verstetigende Armut gerutscht. Als
Problem wird diese Armut nur empfunden, wenn sie sich zeigt. Wer aber
von der Armut nicht sprechen will, soll zum Völkermord, zum Rassismus
der Nazis und von seiner Scham der Nachgeborenen lieber schweigen.

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