Große demokratische Preisfrage: Bilden mehr
Parteien im Parlament auch mehr Bürgerwillen ab? In Niedersachsen
kann am Sonntag beides geschehen: Ein Dreier-Landtag mit Schwarz,
Rot, Grün ist ebenso denkbar wie der Sechser mit Links, Liberal und
Piraten dazu. Die Stimmung rund um die gefühlte Landeshauptstadt
Großburgwedel ist eher norddeutsch unterkühlt, kein Aufregerthema in
Sicht, dass die Wähler in Scharen zum Ankreuzen treibt. Am Start
scharrt ein übercoachter Amtsinhaber mit dem ins Emsländische
spielenden Namen McAllister – dagegen steht der bieder-verlässliche
Sozialdemokrat Weil. Die dritte Volkspartei ist grün und präsentiert
mit Anja Piel das Modell Mutti. Drei durchaus respektable Figuren,
die dem bundesweiten Trend zu netter Langeweile folgen, so wie
Dreyer, Kretschmann, Kramp-Karrenbauer, Kraft, Scholz oder Sellering.
Hat die Demokratie so viel Einheitlichkeit gewollt? Werden hier Land
und Leute tatsächlich abgebildet? Eher nicht. Deswegen gehören auch
andere Parteien in den Landtag, solange keine Braunen dabei sind. Die
Fünfprozenthürde verhindert, dass nur Partikularinteressen vertreten
werden, von wegen Biertrinker-, Pogo- oder Golfer-Partei. Die Piraten
zum Beispiel hätten eine weitere Chance verdient, weil sie sich nach
dem Chaos des Herbstes wieder einigermaßen gefangen haben. Eher Bande
als Organisation, bilden die Idealisten das spannendste demokratische
Experiment seit Aufkommen der Grünen. Hier werden junge Wähler
mobilisiert und Themen gesetzt, die die Etablierten verpennen.
Deswegen dürfen die Rookies in Orange gern ein weiteres Übungsgelände
bekommen. Die Linken, zu Recht oft abgeschrieben, dürften sich über
die Auftritte des SPD-Kandidaten Steinbrück genauso freuen wie die
Kanzlerin. Pannen-Peer ist der beste Wahlhelfer für die Brigade
Wagenknecht, denn der Kandidat ist ebenso Schröderianer wie
Niedersachsen-Herausforderer Weil, der sich angeblich vom Altkanzler
beraten lässt. Doch wenn die SPD Millionen von prekär Beschäftigten
oder Abgehängten nicht repräsentiert, dann drängen die Linken ins
Parlament. Wohl auch in Hannover. Bliebe der letzte und schwierigste
Fall – eine gewisse FDP. Es ist ja ein Elend: Die Liberalen haben
wahrscheinlich das beste Programm von allen, aber leider die
fürchterlichste Truppe. Mobbingfreude und Grundgehässigkeit sind
inzwischen wohl Aufnahmekriterien. Immerhin: Der Entertainment-Faktor
ist groß. Schon deswegen muss man dem Parteivorsitzenden und
Vizekanzler in seinem Heimatland Niedersachsen einen Erfolg wünschen,
einfach nur, um ihn im Amt zu halten und das Quietschen der Niebels
und Kubickis zu erleben. Letzte und entscheidende Frage: Was bedeutet
es eigentlich für die Macht, wenn ein halbes Dutzend Parteien im
Parlament zu Hannover sitzt? Gut möglich, dass weder Schwarz-Gelb
noch Rot-Grün eine Mehrheit haben. Dann gibt es eine große Koalition.
Und schon werden die Grenzen des demokratischen Ideals sichtbar:
Kleine im Parlament bedeuten noch lange nicht, dass Kleine auch
machen dürfen. Vielleicht diesmal auch ganz gut so.
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