Gilt das jetzt noch als Landtagswahl oder schon
als Glücksspiel? Die Grünen fahren in Niedersachsen ein
Rekordergebnis ein, doch die Sensation des Abends ist die FDP.
Vorgestern noch auf dem politischen Sterbebett, bejubelt die liberale
Seele heute ein Ergebnis dicht an der Zweistelligkeit. Die Lager
Schwarz-Gelb und Rot-Grün liegen bis zum Schluss nahezu gleichauf:
David McAllister könnte für die CDU am Ende hauchdünn das Amt des
Ministerpräsidenten retten. Doch die Republik rätselt, was man mit
diesem kuriosen Ergebnis bloß anfangen soll. Der Wahlausgang in
Niedersachsen, so knapp er ist, lässt alle Interpretationen offen –
erst recht mit Blick auf Berlin. Er ist einmal mehr ein Beleg dafür,
dass aktuelle Prognosen für den Ausgang der Bundestagswahl im
September gar nichts bedeuten müssen. Zu weit ist der Weg, zu spontan
entscheiden sich die Wähler. Am klarsten sind die Trends bei der
Linkspartei und den Piraten. Während die Linke zum wiederholten Male
im Westen scheitert, müssen die Piraten ihren ersten herben Dämpfer
einstecken. Die Linke fällt mehr und mehr auf den Stand einer
ostdeutschen Regionalpartei zurück. Bei den Piraten ist jede
Anfangseuphorie dahin. Doch was ist bei allen anderen Fragen, die
über Hannover und Niedersachsen hinausreichen? Nichts Genaues weiß
man nicht. Philipp Röslers Zukunft als FDP-Vorsitzender bleibt offen.
Schließlich weiß jeder, dass dieses Ergebnis der Liberalen mehr den
Leihstimmen von CDU-Wählern als der eigenen Leistung zu verdanken
ist. Unbestreitbar ist jedoch, dass die FDP zum dritten Mal in Folge
gegen die Erwartung der Demoskopen klar in einen Landtag einzieht.
Für Rainer Brüderle, Christian Lindner und Co. ist es also gewiss
nicht leichter geworden, Rösler loszuwerden. Hin- und hergerissen
dürfte die SPD sein. Zwar kann ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück
fürs Erste aufatmen. Desaster vermieden. Doch ohne Machtwechsel muss
die Partei enttäuscht sein. Schon verschanzen sich die
Sozialdemokraten hinter ihren leichten Zugewinnen, schweigen aber
über den Absturz gegenüber den Umfragen, die lange einen klaren Sieg
von Rot-Grün vorhergesagt hatten. Rückenwind für den Bund sieht
jedenfalls anders aus. Fakt bleibt auch, dass das Projekt Rot-Grün
nicht erst seit gestern Abend immer stärker von den Grünen lebt.
Einzig ihr Rekordergebnis hielt den Wahlausgang so lange offen. Doch
dürften in den Reihen der Grünen auch die Stimmen derjenigen wieder
lauter werden, die eine Öffnung hin zur Union fordern. Schwarz-Grün
wird also weiter durch die Debatte geistern. Denn Niedersachsen
beweist eben auch: Wer gewinnt, muss nicht automatisch der Sieger
sein. Bleibt die Zukunftsfähigkeit von Schwarz-Gelb: McAllister und
Kanzlerin Angela Merkel mögen am Ende erleichtert sein, wenn es nach
der Zitterpartie ganz knapp zum Machterhalt reicht. Zur
Selbstzufriedenheit jedoch besteht kein Anlass. Dafür sind die
Verluste der CDU viel zu hoch.
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