DER STANDARD-Kommentar „Kurzsichtige Klientelpflege“ von Anita Zielina

Fast wirkt es, als wären Politiker und Journalisten
überrascht, dass es bei demokratischen Abstimmungsergebnissen ein
demografisches Gefälle gibt. Dass das Argument des drohenden
Zusammenbruchs des Sozialsystems bei Wegfall der Zivildiener, das die
ÖVP im Vorfeld der Wehrdienst-Volksbefragung bemühte, bei ihrer
Klientel auf fruchtbaren Boden fiel, kann man dieser nicht vorwerfen
– wohl aber den handelnden Politikern.
Statt einer Sicherheitsdebatte setzte die Volkspartei auf die Angst
ihrer Kernwähler, sich im Alter keine Pflege und Betreuung mehr
leisten zu können. Die SPÖ hatte dem nichts entgegenzusetzen – sie
verabsäumte es, die Diskussion mit Fakten zum Berufsheer und mit
sozialpolitischen Vorstößen auf den Boden der Tatsachen
zurückzuholen. Zusammenfassen lässt sich das direktdemokratische
Experiment vom vergangenen Wochenende mit wenigen Worten: viel
Emotion, wenig Vision.
So ganz genau weiß auch heute noch niemand, wie sich die beiden
Koalitionsparteien die Sicherheitspolitik der Zukunft vorstellen, von
der Sozialpolitik gar nicht erst zu reden. Und warum auch? De facto
befinden wir uns schon mitten in einem Wahlkampf, der uns bis zum
vermutlichen Termin der Nationalratswahl im Herbst nicht mehr
loslassen wird.
Der Fluch der modernen parlamentarischen Demokratie ist unter anderem
die ihr eigene Verlockung, kurzfristig zu planen und zu agieren. Wer
heute als Politiker an der Macht ist, der wird geradezu ermuntert,
nicht weiter als bis zum nächsten Wahltag zu denken. Die Folge:
Kurzsichtige Klientelpflege siegt über strategische Planung.
Weitsichtigkeit und Visionen sind Werte, die in der österreichischen
Politik und den Parteien nicht nur selten geschätzt, sondern auch oft
skeptisch beäugt werden. Statt Strategie zählt Taktik, statt
Weitblick Parteiräson. Wenn so mit der Demokratie umgegangen wird, wo
bleibt dann der Aufschrei? Er ist bereits da, nur äußert er sich eher
leise als laut: nämlich in einer konstant steigenden Anzahl von
Nichtwählern, Politikverdrossenen und Enttäuschten.
Zukunftskongresse aller Art tragen allerhöchstens stolz die
Jahreszahl 2020 im Namen – wohl wissend, dass selbst der damit
abgesteckte Zeitraum noch extrem kurz angesetzt ist. Wer das Sozial-
und Pensionssystem, die Gesundheitsversorgung, die Sicherheitspolitik
und die Europafrage nachhaltig und ernsthaft behandeln will, dessen
Horizont darf nicht 2020 enden – und schon gar nicht am Wahltag.
Ja, Österreich braucht eine breite Debatte über Gerechtigkeit, eine
große, parteiübergreifende Diskussion über Zukunftsvisionen. Über die
Verteilung von Vermögen und Belastungen, die Besteuerung von Arbeit
und bestehenden Werten, die Ein- und Auszahlungen in und aus dem
sozialstaatlichen Topf, die Chancen der Jungen und den Lebensstandard
der Alten. Aber diese Debatte darf nicht im Wahlkampfgeplänkel
untergehen, und sie darf nicht auf die reine Altersfrage reduziert
werden.
Die kommenden Jahre werden entscheiden, wie und ob Europa als
Sozialprojekt erfolgreich ist. Wir brauchen einen Zukunftskongress,
der seinen Namen verdient hat – unter Einbeziehung aller
demografischen Gruppen. Wenn die Politik den notwendigen Weitblick
nicht bieten kann, muss die Bevölkerung das selbst in die Hand
nehmen.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

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