BERLINER MORGENPOST: BERLINER MORGENPOST: Nur scheinbar ein kluges Urteil / Leitartikel von Sven Felix Kellerhoff

Es sollte wohl ein salomonisches Urteil sein, das
für Ausgleich sorgt und damit Rechtsfrieden stiftet. Bekanntlich aber
hat dieses Ansinnen schon in der Bibel nicht so recht funktioniert,
und ebenso ist es beim Schuldspruch gegen die Ex-Terroristin Verena
Becker. Zu vier Jahren Haft hat das Stuttgarter Oberlandesgericht das
frühere Mitglied der Terrorgruppen Bewegung 2. Juni und RAF am
Freitag verurteilt, weil sie die Entscheidung für den Anschlag „im
Beisein der späteren Täter mitbestimmt und die Täter dadurch in ihrem
Tatentschluss bestärkt“, so die Begründung des Richters. Jedoch fußt
dieser Teil des Schuldspruchs nach der öffentlichen Beweisaufnahme
einzig und allein auf der Aussage des Ex-Terroristen Peter-Jürgen
Boocks. Er ist aber ein notorischer Märchenerzähler, der stets
verklausuliert und immer nur einen Bruchteil dessen von sich gibt,
was er – möglicherweise – wirklich weiß. Es ist kaum anzunehmen, dass
diese Begründung in der nächsten Instanz die Richter am
Bundesgerichtshof überzeugen wird. Neben diesem harten, aber
fragwürdig begründeten Teil des Urteils stellte das Stuttgarter
Oberlandesgericht eine merkwürdig milde Haftdauer: 30 der 48 Monate
Haft sollen als bereits verbüßt gelten. Ob die Reststrafe von
anderthalb Jahren zur Bewährung ausgesetzt wird oder nicht, wollten
die Richter am Freitag nicht entscheiden. Stattdessen verschoben sie
die Aufgabe, darüber zu entscheiden, in die Zukunft – wenn das Urteil
Rechtskraft erlangt hat. So bleibt die entscheidende Frage offen:
Muss Verena Becker wegen des Buback-Anschlags erneut hinter Gitter?
Es blieb am Freitag unklar, ob Kalkül dahintersteckt. Man kann sich
des Eindrucks aber kaum erwehren, hier solle die Öffentlichkeit mit
einem harten Urteil befriedigt werden, während gleichzeitig der
Angeklagten signalisiert wird, wenn sie nicht in Revision gehe, würde
dann durch Bewährung faktisch belohnt. Im Rechtsstaat ist Haft die
schärfste mögliche Sanktion, und gerade deshalb gilt der Grundsatz:
Im Zweifel für den Angeklagten. Das ist unbequem, wenn es um eine
verstockte Person wie die Überzeugungstäterin Verena Becker geht, die
bislang nur für ein einziges der vielen Verbrechen belangt worden
ist, das sie im Namen einer mörderischen Ideologie begangen hat. Aber
man kann dieses Prinzip trotzdem nicht einfach über Bord werfen.
Genau das aber tun die Stuttgarter Richter mit ihrem nur scheinbar
klugen Urteil. Es ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, dass
Verena Becker bei der Vorbereitung des Buback-Attentats eine
Führungsrolle eingenommen hat. Allein, es ist ihr trotz 165 Zeugen
und acht Sachverständigen nicht nachgewiesen worden. Wir wissen ja
auch nach diesem Urteil nicht einmal, welche Täter die Angeklagte „in
ihrem Tatbeschluss bestärkt“ haben soll. In einem solchen Fall kennt
der Rechtsstaat aus guten Gründen einzig und allein die Möglichkeit,
die Angeklagte aus Mangeln an Beweisen freizusprechen. Auch wenn es
sich um eine Ex-Terroristin handelt.

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