BERLINER MORGENPOST: Die SPD auf der Suche nach der Realität – Leitartikel

Die SPD hat sich verabschiedet. Nicht nach Hape
Kerkelings Erfolgsmotto „Ich bin dann mal weg“ … und komme gestärkt
zurück. Sie ist abgetaucht, weil ihr die Themen abhandengekommen
sind. Keiner weiß so recht, wofür Gabriels Sozialdemokraten
eigentlich noch stehen. Signale für ein kraftvolles Auftauchen sind
nicht erkennbar. Die Partei beschäftigt sich mit sich und Problemen,
die sie keinen Millimeter aus dem Umfragetief führen. Und daran wird
auch das Parteiausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin am heutigen
Donnerstag nichts ändern. Nun mag man zu Recht über die eine oder
andere These aus dem Buch des ehemaligen Finanzsenators und
Bundesbankers zur bislang gerade auch in Berlin misslungenen
Integrationspolitik streiten. Aber dem quer denkenden, knorrigen
Sozialdemokraten deshalb das rote Parteibuch entziehen zu wollen
droht mehr Schaden als Nutzen zu zeitigen. Nicht nur verdiente
Altgenossen wie Klaus von Dohnanyi halten einen Rausschmiss für einen
schweren Fehler. Auch im Parteivolk stößt der Autor mit seiner
Millionenauflage auf mehr Zustimmung, als der Parteiführung lieb ist.
Von der breiten Öffentlichkeit ganz zu schweigen. Einen Praktiker wie
Heinz Buschkowsky zu umgarnen, den Theoretiker und letztlich Bruder
im Geiste des Bezirksbürgermeisters aber zu verteufeln, nagt schwer
an der Glaubwürdigkeit der SPD. Dass die sich seit Tagen eine Debatte
über den Kanzlerkandidaten für 2013 leistet, statt sich bei den
brisanten aktuellen Themen Gehör zu verschaffen, nicht minder. Die
SPD darf sich die innenpolitische Landschaft nicht länger schönreden.
Wer die miserablen Wahlergebnisse von Baden-Württemberg und
Rheinland-Pfalz als große Wahlerfolge uminterpretiert, blendet
Realitäten und strukturelle Veränderungen aus. Ein paar Wochen vorher
wäre es für Sozialdemokraten noch undenkbar gewesen, Juniorpartner
eines grünen Ministerpräsidenten zu sein. Oder sich damit
zufriedenzugeben, dass die Grünen als Retter Kurt Becks einspringen,
der nicht weniger als zehn Prozent seiner einstigen Wähler verloren
hat. Es ist zwar richtig, dass der GAU von Fukushima zum Hoch für die
Grünen geworden ist. Doch die einst alternative Partei spiegelt das
Lebensgefühl von vielen Deutschen mittlerweile treffender wider als
die SPD. Die Gefahr für diese ist durchaus real, von den Grünen auf
den dritten Platz verwiesen zu werden; und damit das Attribut
„Volkspartei“ endgültig zu verlieren. Sie kann ja nicht einmal mehr
von der Krise der Linkspartei profitieren. Um einen solchen Abstieg
zu verhindern, muss die SPD wieder ein Thema für sich finden und
offensiv vertreten. Ihr letzter Wahlsieger, Olaf Scholz in Hamburg,
hat es eigentlich schon vorgegeben: die glaubwürdige Verbindung von
Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das allerdings zwingt zum Umdenken.
Die SPD muss wieder mehr werden als der Anwalt der sozial Schwächeren
im Lande. Deshalb muss sie gute Wirtschaftsdaten wieder als Chance
für alle begreifen und nicht zum weiteren Schröpfen der Unternehmen
und Erfolgreichen fehlinterpretieren. Darüber sollte die SPD mit sich
in Klausur gehen. Anderenfalls braucht sie in Zukunft allenfalls noch
über einen Vizekanzler aus ihren Reihen zu spekulieren.

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de