BERLINER MORGENPOST: Ein historischer Wahltag – auch für die Kanzlerin – Leitartikel

Rumms. Der Wähler hat gesprochen – und zwar
deutlich. Während Rheinland-Pfalz keine übergroße Überraschung
brachte, verdient das Ergebnis von Baden-Württemberg das Prädikat
„historisch“, in mehrfacher Hinsicht. Ein Kernland der CDU ist nach
über fünf Jahrzehnten offenbar gefallen, erstmals wird es in
Deutschland wohl einen grünen Ministerpräsidenten geben, der
Anfang vom Ende der Ära Merkel ist markiert. Diese politische
Ohrfeige gilt nicht nur dem blassen Ministerpräsidenten Mappus,
sondern vor allem der Kanzlerin und Parteichefin. Angela Merkel hat
die Endphase des Wahlkampfes mit umstrittenen Entscheidungen geprägt;
sie hat die eigenen Wähler demobilisiert – die Angst vor Rot-Grün
genügte nicht, um schwarz-gelbe Wähler zur Gegenwehr zu bewegen. Nach
NRW ist nun auch der ökonomisch mächtige Südwesten in rot-grüner
Hand. Deutschland verabschiedet sich vom schwarz-gelben Projekt, es
ist absehbar nicht mehr mehrheitsfähig. Dass der Koalitionspartner
FDP bei beiden Wahlen auf den alten Stand der
Knapp-fünf-Prozent-Partei zurückgeworfen wurde, illustriert das
Ausmaß der Niederlage. Der Triumph der Grünen weist zugleich auf die
neue Flexibilität von Rot-Grün hin. Zwei etwas kleinere
Volksparteien, die aber beide siegen können, scheinen mächtiger als
das traditionelle Bündnis von Groß- und Kleinpartei. Siegte in
Hamburg triumphal die SPD, kommt es in Mainz zu Rot-Grün. In
Stuttgart hingegen regiert demnächst wohl der Grüne Winfried
Kretschmann, Lehrer und wertkonservativer Katholik, pragmatisch,
regional-patriotisch und für breite Schichten wählbar. Kretschmanns
Triumph ist keine Überraschung, sondern logische Folge einer
jahrzehntelangen Entwicklung. Überall im Ländle ist der grüne
Lebensstil angekommen, den Politiker wie Rezzo Schlauch, Fritz Kuhn
oder Cem Özdemir repräsentieren. Bei der letzten Landtagswahl standen
die Grünen als CDU-Koalitionspartner bereit, doch Günther
Oettinger entschied sich nach kurzem Flirt vor den Kameras doch für
das gelernte Bündnis. Womöglich ein kapitaler Fehler. Für die
Ökopartei beginnt nun, endlich, der Ernst des Lebens. Lange Jahre
verbrachte die Partei in der Komfortzone, durfte aus der Opposition
schulmeistern und besserwissen. Als Ministerpräsident muss
Kretschmann zeigen, wie er die ewigen Konfliktthemen Ökologie und
Ökonomie, Sparen und Verteilen, Sicherheit und Experiment unter einen
Hut bekommt. Fakt ist: Baden-Württemberg wird nicht untergehen. Im
Gegenteil: Das deutsche Musterland fühlt sich stark und selbstbewusst
genug, ein Experiment zu wagen. Probleme hat weniger Stuttgart als
vielmehr Berlin. Der Kanzlerin drohen die Wochen der Wahrheit.

Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Chef vom Dienst
Telefon: 030/2591-73650
bmcvd@axelspringer.de