BERLINER MORGENPOST: Eine Kehrtwende, die Vertrauen kostet – Leitartikel

Atomkraftwerke schmelzen in Deutschland plötzlich
dahin wie Schnee an der Sonne oder, leider, wie die Brennstäbe in
Fukushima. Montag war es nur ein altes Kernkraftwerk, das sofort vom
Netz sollte. Dienstagmorgen waren es schon sieben. Dazwischen hatten
zwei weitere Explosionen in Fukushima stattgefunden. Man fragt sich,
was die Bundeskanzlerin von der deutschen Kernenergie noch übrig
ließe, sollten weitere japanische Reaktoren fernsehwirksam bei Tage
explodieren. Kommen dann alle Kraftwerke über Nacht vom Netz, nicht
nur die alten? Die Entscheidung ist nicht falsch, zunächst drei
Monate lang Deutschlands Kernkraftwerke noch einmal auf Herz und
Nieren zu prüfen. Die Entscheidung ist nur sehr überraschend, und
sehr irritierend. Man dachte, die Sicherheit sei geprüft worden,
bevor die Laufzeiten ausgedehnt wurden. Jetzt erst soll genau
untersucht werden, ob Notstromgeneratoren wirklich ausreichend lange
einen Reaktor vom Durchbrennen abhalten können, sollte die normale
Stromversorgung ausfallen? Jetzt erst wird dem bayerischen
Ministerpräsidenten bewusst, dass das Kraftwerk an der Isar ja gar
nicht gegen einen Flugzeuganschlag zu schützen wäre? Die Aussetzung
der verlängerten Betriebserlaubnis mit solchen Gründen ist fatal. Wie
konnte denn dann die Laufzeit für derartige Risikomeiler verlängert
werden? Die Bundesregierung weckt nun den Eindruck, als habe sie
diese Erlaubnis mutwillig und ohne ausreichende Prüfung erteilt. Die
Bundesregierung weckt deshalb auch den Verdacht, als sei sie ohne das
japanische Beben bereit gewesen, verantwortungslos zu handeln. Hinzu
kommt, dass Angela Merkel plötzlich auch den Stellenwert der
Kernenergie als „Brückentechnologie“ zum Zeitalter erneuerbarer
Stromquellen relativiert. Bis zum vergangenen Donnerstag hieß es,
ohne die Atomkraftwerke drohten der deutschen Industrie
Stromengpässe. Gestern hörte die Nation aus dem Mund der Kanzlerin,
dies sei keineswegs der Fall. Aus der FDP, die die treibende Kraft
bei der Verlängerung der Reaktorlaufzeit war, kommen nun die
heftigsten Forderungen nach einem Umdenken, nach Konsequenzen und
Prüfständen. Am liebsten, so scheint es, würde Guido Westerwelle
gleich ganz Europa ein Atomkraftmoratorium verordnen – jetzt, wo es
die Bilder aus Japan gibt. Diese Bilder sprechen für sich, aber nicht
in dem Sinn, wie Guido Westerwelle oder Angela Merkel es in Anspruch
nehmen. Um es ohne Umschweife zu sagen: Von denjenigen, die die
Laufzeitverlängerung durchgesetzt haben, möchte man jetzt nicht
nachträglich und ganz besonders laut über die Risiken der Atomenergie
aufgeklärt werden. Die Risiken zu benennen war eine Aufgabe, die vor
der Verlängerung zu lösen war. Jetzt klingt die plötzliche Erkenntnis
ein wenig danach, als wolle die Koalition sich vor der Landtagswahl
in Baden-Württemberg noch schnell auf die richtige Seite der
Geschichte schlagen. Das ist nicht ehrenrührig, aber für Politiker
ein heikler Schritt. Denn wenn eine so prinzipienbetonte Entscheidung
wie die Laufzeitverlängerung binnen Stunden über Bord geworfen wird,
dann sinkt auch das Vertrauen in andere „alternativlose“
Entscheidungen dieser Regierung.

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