BERLINER MORGENPOST: Eine Super-Koalition
regiert Deutschland

Jochim Stoltenberg zur Anrufung des Vermittlungsausschusses – und der neuen Rolle der Grünen

Jetzt kann es gar nicht schnell genug gehen. Noch
bevor der Bundesrat die vom Bundesverfassungsgericht verordnete und
von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen vorgenommene
Hartz-IV-Reparatur abgelehnt hat, haben sich Regierung und Opposition
schon auf eine Vermittlungsrunde verständigt. Sie soll nun zwischen
dem Bundestag mit seiner schwarz-gelben Mehrheit und der
Länderkammer, in der Merkels und Westerwelles Mehrheit futsch ist,
eine Brücke bauen. Das ist gut so. Schon am kommenden Montag und dann
hoffentlich weiter zwischen den Jahren sitzt die fast
Allparteien-Expertenrunde (nur die Linke fehlt) zusammen, um endlich
das einvernehmlich auf den Weg zu bringen, was ihnen die
Verfassungsrichter vorgegeben haben. Und das soll eigentlich am 1.
Januar Gesetz sein. Nicht allein der Richterspruch mahnt zu Eile.
Ebenso die Erwartung, dass das von Ministerin von der Leyen
geschnürte Bildungspaket für bedürftige Kinder so schnell wie möglich
auch ausgepackt werden kann. Es dürfen nicht länger parteitaktische
Spielchen auf dem Rücken der Bedürftigen ausgetragen werden. Damit
würden sich Opposition wie Regierung gleichermaßen blamieren. SPD und
Grüne, weil sie vor Jahren das für verfassungswidrig erklärte
Hartz-IV-Gesetz nur über den Daumen peilend beschlossen hatten – sie
sind also die Verursacher der verordneten Reparatur. Und die neue
Regierung, weil sie sehenden Auges die am Freitag im Bundesrat zu
erwartende Niederlage in Kauf nimmt. Als erstes positives Zeichen hat
Ursula von der Leyen, klüger als der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende
Volker Kauder, schon vor ein paar Tagen der Opposition Entgegenkommen
bei der Ausgestaltung des Bildungspakets signalisiert. Die
Vermittlungsrunde wird zur nächsten großen Herausforderung und
zugleich Bewährungsprobe für die Arbeitsministerin, auch für mögliche
höhere politische Weihen eines Tages. Doch nicht allein für von der
Leyen, für die ganze Regierung Merkel/Westerwelle ist der
Vermittlungsausschuss eine Nagelprobe. Mit dem Verlust
Nordrhein-Westfalens im Mai dürfte Schwarz-Gelb angesichts der eher
bescheidenen Aussichten im Superwahljahr 2011 (sieben Landtagswahlen)
für längere Zeit die Mehrheit in der Länderkammer verloren haben. Aus
eigener Kraft kann die Koalition kein wichtiges Gesetz mehr allein
beschließen, das die Interessen der Länder berührt. Erfahrungsgemäß
sind das sehr viele. Sie braucht dazu künftig Stimmen aus Ländern, in
denen SPD oder Grüne mitregieren. Solche „Allparteien-Koalitionen“,
die letzte Entscheidungen im Vermittlungsausschuss zwischen den
Kammern des Volkes und der Länder treffen, sind in Deutschland nichts
Ungewöhnliches. Der Qualität der quasi per Superkoalition
festgezurrten Gesetze hat es in der Vergangenheit sogar mehr genützt
als geschadet. Die erste Anrufung des Vermittlungsausschusses unter
Schwarz-Gelb kündet zumindest vorerst vor allem aber auch von einer
anderen Kräfteverschiebung: Nicht mehr die SPD kann die notwendige
Stimme beibringen, um der Regierung neue Grenzen aufzuzeigen. Es sind
erstmals die Grünen, dank ihrer Regierungsbeteiligung an der Saar.
Ihre neue Stärke im ganzen Land trägt damit auch machtpolitisch.
Darüber sollte Sigmar Gabriel nachdenken – statt flapsige bis dumme
Sprüche zu machen.

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