Fukushima-Faktor hin oder her: Es verschiebt sich
was im deutschen Parteiengefüge. Ob im Bund oder in Berlin, in
Großstadt oder Flächenland – die Grünen sind angekommen in der Mitte
der Gesellschaft. Würde an diesem Wochenende gewählt, zöge Renate
Künast im Roten Rathaus ein und Jürgen Trittin wohl im Kanzleramt.
Die Ökos in Nadelstreifen sind keine Angst machende Chaos-Truppe
mehr, sondern so deutsch wie Gartenzwerg und Bio-Karotten. Das Grüne
gehört in der Industrie, im Supermarkt, in jedem Haushalt zum guten
Ton – nicht unbedingt als konsequenter Lebensstil, aber hier und da
als Haltung, vielfach auch als Pose. Die Öko-Partei hat als einzige
ein zentrales Thema der Deutschen besetzt: eine Zukunft zum
Wohlfühlen. Die Wellness-Botschaft erreicht Junge und Alte. Gut
gestellte Silver-Surfer und ein traditionell umweltbewusster
Nachwuchs bilden eine Oma-Enkel-Aufregungsgemeinschaft und mithin die
Startaufstellung für jede Demonstration. Dem Steuern wie Renten
zahlenden Werktätigen fehlten bislang Zeit und Energie für
Betroffenheit und Aufruhr. Doch die grüne Welle schwappt auch in die
Schicht jener sogenannten Leistungsträger, die Schröder gut fanden
und 2009 eher aus Versehen Westerwelle gewählt haben. Der
Rund-um-die-Uhr-Diktatur des iPhones, dem täglichen Stau, dem
wachsenden Unwohlsein und Alltagsstress setzen die Grünen das Ideal
von der Bullerbü-Republik Deutschland entgegen. Ihr trotziges Mantra:
Das Leben ist eben doch ein Ponyhof. Zudem profitieren die Grünen von
einer wirtschaftlich eher entspannten Zeit mit Lohnzuwächsen und
sinkender Arbeitslosigkeit. Stimmt die gefühlte ökonomische
Sicherheit, kann man das grüne Risiko ruhig mal eingehen. Zum anderen
hat die frühere Fischer-Partei ein Kunststück fertiggebracht, das
andere Parteien nicht hinkriegen: Trittin, Künast, Roth und Özdemir
treten als Team auf, Streitereien werden – zurzeit jedenfalls – im
Verborgenen ausgetragen. Es gilt das kohlsche Motto, wonach eine
Partei geschlossen aufzutreten hat, will sie erfolgreich sein. Die
anderen können das nicht. Während die SPD in die nächste
K-Katastrophe steuert, sich also erbittert streiten wird, ob Gabriel,
Steinmeier oder vielleicht doch der Steinbrück, wird die CDU von der
Kanzlerin und Parteichefin mit hohem Verschleiß bei anschwellendem
Murren gesteuert. Die Linke wiederum ist dabei, sich selbst zu
zerlegen. Das hat die FDP schon hinter sich. Mit dem neuen
Vorsitzenden Rösler und seinen beiden Kumpels Bahr und Lindner stehen
an der Spitze der Liberalen drei Männer, die den Ruf der Ego-Partei
allmählich abbauen könnten. Dafür müssen sie 2013 allerdings erst mal
in die Opposition, Brüderle, Leutheusser und Homburger abwerfen und
sich dann mindestens vier Jahre lang neu erfinden. Dann zeigt sich,
ob aus den drei Fragezeichen drei Hoffnungsträger werden. Bis dahin
dürften sich der edelgraue Jürgen, die emotionale Claudia und die
regierende Renate mit der Lederjacke entzaubert haben. Dafür wird die
Macht schon sorgen.
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