BERLINER MORGENPOST: Kommentar zum Optimismus vor dem Jahreswechsel

Besinnungstage sind emotional bisweilen lästig.
Kaum lassen die ruhigen Stunden zwischen den Jahren ein bisschen Zeit
zum Grübeln, schon stehen die verbissen wertenden Instanzen bereit,
ihr Moralurteil zu fällen. Angesichts einer warmen Wohnung, üppiger
Geschenke, eines stattlichen Weihnachtsbaums und einer noch
stattlicheren Gans könnte ja der Gedanken aufkommen, dass es uns ja
doch relativ gut geht. Will man mit den Griechen tauschen, Berlusconi
zum Präsidenten haben, Weihnachten in Shanghai oder Bangalore feiern?
Alles vergleichsweise erträglich hier. Tapfere Postler schleppen
täglich Briefe durch den Schnee, Müll wird abtransportiert, mancher
Weg geräumt. Was soll die habituelle Hysterie, weil hochempfindliche
Kunstwerke wie ICE-Fahrpläne bei Winterwetter tatsächlich
kollabieren? Wann wird das Menschenrecht auf sekundenpünktlichen
Transport in der ersten Klasse zum Supersondersparpreis in das
Grundgesetz geschrieben? Die Jahresendgelassenheit erträgt das
Wettsingen von Josè Feliciano und Wham ebenso wie Wulffs
Weihnachtsansprache, immerhin unterhaltsamer geraten als die seiner
stierenden Vorgänger. Der Schnee hat die Stadt angenehm gedämpft und
Hyperaktive vorübergehend gebremst. Das Auto ist festgefroren.
Spenden haben das Gewissen ein wenig beruhigt. Wie selbstsüchtig
solch schlichte Freude doch ist, wirft die moralische Instanz ein.
Die Gans hat das Jahr über gelitten, die Samen für die Tanne haben
bitterarme Georgier für ein paar Cent geliefert, und vielleicht lebt
im Nachbarhaus ein einsamer Mensch, der sich weder Bratgut noch
Christgrün leisten kann und im Kalten hockt, um Heizkosten zu sparen.
Wie kann man da Gedanken des Glückes hegen? Berechtigte Frage: Darf
man sich freuen, einfach so oder gar an einem edlen Geschenk? Darf
man entspannt sein, weil die vielfältigen Spielarten des
Weltuntergangs (Klima, Euro, Terror) offenbar einen Restrespekt vor
den Weihnachtstagen gezeigt haben? Selbst Wikileaks hat geschwiegen,
obgleich noch zu enthüllen gewesen wäre, dass gar nicht der
Weihnachtsmann die Geschenke bringt. Bleibt dennoch die Frage: Leben
wir in einem vergleichsweise glücklichen Land, wo 80 Prozent von
allem leidlich funktioniert? Oder geht in Wirklichkeit überall alles
den Bach hinunter? Ist ein naiver Tropf, wer sich dieser Tage eines
vergleichsweise sorglosen Lebens freut; oder ist ein Miesmacher, wer
stete Bedenken hegt? Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte: Ja, diesem
Land und vielen seiner Bewohner geht es im globalen Vergleich
ziemlich gut, selbst das Elend fällt in Deutschland weniger hart aus
als fast überall anders. Wohlergehen aber ist kein Zustand, sondern
ein Prozess, der einiges mit Anstrengung und Beharrlichkeit, vor
allem aber mit Glück zu tun hat. Es ist kein individuelles Verdienst,
sondern Gewinn in der Lebenslotterie, dass wir hier leben und nicht
in Bangladesch oder Haiti, wo die Menschen ums Überleben kämpfen und
nicht um Ausverkaufsschnäppchen. Wohlstand bekommt nur dann einen
Sinn, wenn er geteilt und verbreitet wird.

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