So viel Politik war nie in der Stadt. Bürger
kämpfen für bessere Kinderbetreuung in Schulhorten oder gegen eine
Ausschreibung der S-Bahn. Andere wollen ein Recht durchsetzen, auf
jeden Fall an den Universitäten ein Masterstudium zu absolvieren. Mal
geht es grundsätzlich gegen nächtliche Flüge vom neuen Flughafen in
Schönefeld, woanders nur für den Erhalt der Sportanlage
Buchenwäldchen. Die vor fünf Jahren deutlich verbesserten
Möglichkeiten für die Bürger, sich direkt an politischen
Entscheidungen auf Landes- und Bezirksebene zu beteiligen oder die
Politiker auf den gewünschten Kurs zu zwingen, hat in Berlin
ungeheure Energien freigesetzt. Keine Spur von Politikverdrossenheit,
im Gegenteil: Wo es konkret wird und wo ihnen ein Thema wirklich
unter den Nägeln brennt, wollen Bürger sich engagieren, mitreden,
mitentscheiden. 25 Vorhaben für Volksbegehren oder Volksinitiativen
auf gesamtstädtischer Ebene seit 2006 und 31 Bürgerbegehren in den
Bezirken legen Zeugnis ab von dem Anspruch, das Schicksal der Stadt
nicht länger nur den Polit-Profis zu überlassen. Bürger können direkt
Druck auf den Senat ausüben und ihn zum Handeln zwingen. So geschah
es mit dem Volksbegehren für bessere Kitas, so wird es auch mit der
Initiative für bessere Horte laufen, wo die Betreuungslücke für die
fünften und sechsten Klassen wohl demnächst geschlossen wird.
Natürlich muss niemand alle diese Initiativen gut finden. Direkte
Demokratie bietet auch Spielräume für Profilneurotiker, radikale
Aktivisten jeglicher Couleur und Menschen, die ihren
Partikularinteressen das Mäntelchen des Allgemeinwohls umhängen
möchten. Aber es gehört zu einer Bürgergesellschaft, solche
Hintergründe zu erkennen und mit Nichtachtung oder einem Nein zu
strafen. Inzwischen lässt sich abschätzen, welche Anliegen genügend
Unterstützer finden, um die immer noch anspruchsvollen Hürden bis zu
einem siegreichen Volksentscheid zu überspringen. Die Offenhaltung
des Flughafens Tempelhof etwa war in einem Teil der Stadt ein
wichtiges und emotionales Thema, für viele andere Bürger jedoch
nicht. In einer religionsfernen Stadt wie Berlin eine Mehrheit für
die Aufwertung des Religionsunterrichts zu organisieren, war
ebenfalls nicht möglich. Volksbegehren haben offenbar eine Chance,
wenn ihr Inhalt alle betrifft, wie etwa die erfolgreiche Initiative
gegen Privatisierung des Berliner Wassers. Sie werden dann
angenommen, wenn sie tatsächlich von engagierten Bürgern getragen
werden wie das Wasser-Volksbegehren. Dass sich Volks- und
Bürgerbegehren stets gegen die Regierungen wenden, liegt in der Natur
der Sache. Wenn der Senat dafür wäre, bräuchten ihm die Bürger nicht
Beine zu machen. Der rot-roten Koalition gebührt Achtung dafür,
dieses Widerstandspotenzial gegen sich selbst mit ihren Gesetzen für
mehr direkte Demokratie freigesetzt zu haben. Jetzt muss sie mit den
Geistern kämpfen, die sie gerufen hat – also auch mit den Bürgern,
die mit der Politik des Senats unzufrieden sind. Für die politische
Kultur in der Stadt sind die neuen Spielräume aber ein Gewinn. Auch
wenn sich erweist, dass Demokratie eben doch sehr anstrengend ist.
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