BERLINER MORGENPOST: Männer und die Demografiefalle / Leitartikel von Judith Luig

Es gibt ein neues Attribut für Deutschland. Die
Entwicklung ist seit Langem bekannt, aber die aktuelle Studie des
Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) manifestiert sie nun
auch in einem Wort: Deutschland ist ein „Niedrig-Fertilitätsland“.
Mit 1,39 Kindern pro Frau haben wir die elftniedrigste Geburtenziffer
in Europa. Und in keinem anderen Land der Welt verzichten Frauen so
häufig ganz auf eigene Kinder. Wie kann das sein? Ist die kinderlose
Frau im gebärfähigen Alter nicht bereits ausweglos von politischen
Maßnahmen umzingelt? Kindergeld, Elterngeld, Betreuungsgeld – was für
Signale brauchen Frauen eigentlich noch, um endlich zu verstehen: Der
Staat will dringend, dass die Frau Kinder kriegt. Aber die Frau, so
scheint es zumindest, will nicht. Auch das hat die Studie des BiB
erforscht: „Nicht einmal die Hälfte der kinderlosen Deutschen
zwischen 18 und 50 Jahren glaubt, dass sich ihre Lebensfreude und
ihre Zufriedenheit verbessern würde, wenn sie in den nächsten drei
Jahren ein Kind bekommen würden.“ Zudem steigt der Druck, auch
wirklich zu perfekten Eltern zu werden. Für die Männer, so die
Studie, wäre das die Rolle des Alleinernährers. Für die Frauen sieht
es noch schwieriger aus. Der Osten ist noch relativ entspannt, im
Westen aber herrscht die Mutti-Kontrolle. Egal, ob es nun ums
Stillen, über die Art der Geburt oder um die Frage nach der
Berufstätigkeit geht, sobald eine Frau Mutter wird, fühlt sich ihr
Umfeld bemüßigt, sie in dieser Rolle zu be- beziehungsweise
verurteilen. Vielleicht sollte man das Ergebnis dieser Studie anders
zusammenfassen. Obwohl wenig dafür spricht, bekommen Frauen in
Deutschland immer noch und immerhin im Schnitt 1,39 Kinder. Doch kann
die Politik wirklich etwas tun, wenn sich Paare oder Alleinstehende,
einfach nicht danach fühlen, Eltern zu werden? Die Antwort darauf
geben die Zahlen aus Frankreich und den nordeuropäischen Ländern.
Dort wird sehr viel länger und sehr viel konsequenter als in
Deutschland an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gearbeitet,
und dort haben infolgedessen auch viel mehr Frauen einen
Kinderwunsch, den sie sich auch erfüllen. Reden wir also nicht mehr
nur über die „dauerhaft kinderlose Frau“, reden wir lieber über den
Mann, von dem übrigens nicht erforscht ist, zu wie viel Prozent er
„dauerhaft kinderlos“ ist. Reden wir über den Chef dieser Frau, der
in Deutschland ja meistens ein Mann ist, oder den potenziellen
Kindsvater, der immer ein Mann ist, und überlegen, warum viel zu
viele von ihnen immer noch finden, dass nicht nur Kinderkriegen,
sondern auch Kinderhaben Frauensache ist. Aufgrund des demografischen
Wandels, hat doch die gesamte Gesellschaft einen Kinderwunsch.
Vielleicht sollte man also nicht nur erforschen, warum Frauen so
selten oder so wenige Kinder bekommen, sondern warum der Rest der
Gesellschaft sie dabei alleine lässt. Wenn wir in dieser Frage nicht
mal in eine andere Richtung denken, müssen wir uns nicht wundern,
wenn der Begriff „Niedrig-Fertilitätsland“ an Deutschland kleben
bleibt.

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