BERLINER MORGENPOST: Schwarz-Grün: Abschied von alten Feindbildern – Leitartikel

Deutschland wird schwarz-grün. Das ist keine
gewagte Prophezeiung für die Koalitionsverhandlungen nach der
Bundestagswahl 2013. Das ist eine Zustandsbeschreibung von 2011.
Atomausstieg, Subventionierung alternativer Energieformen,
Abschaffung der Wehrpflicht, gesetzlich vorgeschriebene Frauenquoten
für die Wirtschaft oder flächendeckende Mindestlöhne – eine
CDU-geführte Bundesregierung verwirklicht oder plant politische
Vorhaben, welche die Grünen seit Jahren verfolgen oder als Erste auf
die politische Agenda gebracht haben. Beim durch eine drohende
Landtagswahl inspirierten Flirt mit dem Nationalpazifismus, der
unglücklich in einer Enthaltung im UN-Sicherheitsrat zum
Libyen-Einsatz gipfelte, agierte die Regierung so urgrün, dass es
sogar modernen grünen Transatlantikern wie dem Parteivorsitzenden Cem
Özdemir grauste. Die grüne Politik der schwarz-gelben Bundesregierung
bestätigt den italienischen Philosophen Antonio Gramsci, der von der
„kulturellen Hegemonie“ schrieb, und widerlegt den sauerländischen
Philosophen Franz Müntefering, der behauptete, Opposition sei Mist.
Im Gegenteil: Grün wirkt, auch wenn Gelb (mit-)regiert. Ob wir auch
eine schwarz-grüne Bundesregierung bekommen – das ist eigentlich
schon nicht mehr die zentrale Frage. Dennoch sprechen zwei
Entwicklungen dafür, die sich in der vergangenen Woche wie in einem
Brennglas bündelten. Im Bundestag schwärmte Umweltminister Norbert
Röttgen fast pastoral vom schönen, neuen, grünen Deutschland nach der
Energiewende – und im Plenum rastete Trittins Kollegin, die grüne
Fraktionsvorsitzende Renate Künast, geradezu aus. Am Ende ging Künast
ausgerechnet zu Michael Fuchs, dem Atombefürworter, vor dessen
Privathaus einmal in der Woche Grüne demonstrieren, und bestätigte
ihm, bei ihm wisse man wenigstens, woran man sei, Röttgens hoher Ton
hingegen sei unerträglich. Künast war nicht zufällig so kratzbürstig.
Die grüne Kodderschnauze sieht ihre Felle davonschwimmen. Mit Polemik
und Attacke gegen Schwarz-Gelb wollte sie im September Regierende
Bürgermeisterin in Berlin werden: Die Stadt des eingeschlafenen
Wowereit quasi mit links erobern. Das klappt nun vielleicht doch
nicht: Eine Union, die selber grün redet, taugt nicht mehr zum
Feindbild. Jedes schwarz-grüne Gedankenspiel könnte Wähler
verschrecken, die sich auch mental in den Alternativbezirken
eingerichtet haben. Deshalb wünscht sich Künast die alte,
verlässliche, wirtschaftsfreundliche CDU zurück. Ganz anders Winfried
Kretschmann: Der lobte nicht die alte, sondern die neue CDU. Merkel
verdiene Respekt für ihre Kehrtwende zum Ausstieg, gratulierte er.
Obwohl der erste grüne Ministerpräsident noch frisch im Amt ist,
gelang ihm damit eine souveräne Geste. Wie der großherzige Vater im
Lukasevangelium den verlorenen Sohn in die Arme nimmt, so hieß
Kretschmann die reuige Tochter Merkel väterlich im Lager der
Gerechten willkommen und sendete die – faktisch richtige – Botschaft:
Ihr Ausstieg ist eigentlich unsere Politik. Grüne als Prüfinstanz für
schwarz-gelbe Politik: Hier ist die alte Koch-und-Kellner-Einteilung
in Koalitionen schon vorab aufgehoben. Grün wäre bei Schwarz-Grün die
dominante Farbe.

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