Zum dritten Mal in Folge hat der türkische
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit seiner islamisch geprägten
AKP eine Parlamentswahl gewonnen. Aus seiner Herrschaft wird damit
eine Ära. Er weiß es selbst, und trat an mit einem
Modernisierungsplan bis ins Jahr 2023. Da geht es um einen zweiten
Bosporus und einen dritten Flughafen für Istanbul, und gleich eine
ganze Reihe neuer Retortenstädte für Millionen von Türken, da das
Volk wächst und weiter wachsen soll. Denn, so sagt Erdogan: „Gott
will es.“ Drei Kinder soll jede türkische Frau mindestens haben,
insofern hat der Regierungschef soeben das Frauenministerium in ein
Familienministerium verwandelt. Im Jahr 2004 schien seine
Zukunftsstrategie für die Türkei klar: Alle Kraft voraus zum
EU-Beitritt. Aber schon ab 2006 wurden die Maschinen gestoppt und
seither nicht mehr angeworfen. Die türkische EU-Integration kam nicht
mehr voran, weil Ankara mit anderen Dingen beschäftigt war, die
Erdogan wichtiger schienen. Zunächst galt es, mit teilweise wenig
demokratischen Mitteln die politische Macht des Militärs zu brechen,
den „Staat im Staat“ aufzulösen, der eine Demokratisierung
verhinderte – aber auch einer Islamisierung im Weg stand. Das ist
geschafft. Hunderte Militärs müssen sich wegen politischer
Einmischung vor Gericht verantworten, das Offizierskorps ist
politisch kraft- und hoffnungslos. Die Umverteilung der Macht in
Erdogans Türkei, die Rückbesinnung auf Islam und osmanische
Traditionen, aber inspiriert von modernistischen Vorstellungen der
religiös-nationalistischen „Gülen-Bewegung“, das alles summiert sich
zu einer tiefen Transformation von Wirtschaft, Gesellschaft und
politischem System. Erdogan ist der größte Veränderer des Landes seit
Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Aber immer noch ist nicht klar,
wohin der Weg führen soll. Eigentlich steht jetzt einer Vollendung
der Reformen für den EU-Beitritt nichts mehr im Wege. Es gibt keine
Entschuldigung, wenn Erdogan weiter damit zögert. Er will eine neue
Verfassung schreiben; technisch fehlen fünf Stimmen im neuen
Parlament, um ein Verfassungsreferendum anzusetzen. Das ist in der
real existierenden türkischen Politik locker machbar. Doch der
EU-Beitritt und eine entsprechende volle Demokratisierung mit
Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde, einem demokratischeren
Parteiengesetz, vollen Minderheitenrechten, der Gleichberechtigung
für Frauen – das war nicht das Thema von Erdogans Siegesrede am
Wahlabend. Sein Sieg sei auch ein Sieg für Gaza, für Jerusalem, für
Sarajevo, rief er stattdessen – und zählte damit alle einstigen
muslimischen Hauptstädte und Regionen des früheren Osmanischen
Reiches auf. Die nächsten Jahre werden zeigen, was Erdogan unter
Zukunft versteht: Modernistische Neo-Islamisierung und Neu-Osmanismus
oder EU-Beitritt. Seine bisherige Strategie, inspiriert von seiner
„grauen Eminenz“, Außenminister Ahmet Davutoglu, deutet eher auf das
Ziel, eine modernisierte Türkei zum Bannerträger der islamischen Welt
zu machen, und dann weiterzusehen. Was die „Ära Erdogan“ betrifft, so
ist sie offensichtlich noch lange nicht am Ziel.
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