DER STANDARD-Kommentar: „Demokratie braucht Reform“ von Conrad Seidl

Eines vorweg: Im Großen und Ganzen hat Österreich ein
funktionierendes politisches System, das dem der meisten Länder der
Welt überlegen ist. Seine Stabilität hat es ermöglicht, dass unser
Land die Krisen der letzten Jahre relativ gut überstanden hat, es hat
der Bevölkerung einen respektablen Wohlstand beschert und soziale
Unruhen vermieden. Die Verwaltung funktioniert, was einem allen
strukturellen Mängeln zum Trotz ordentlich arbeitenden öffentlichen
Dienst und einer insgesamt gesetzestreuen und brav ihre Steuern
zahlenden Bevölkerung zu verdanken ist. Schließlich zeigt das System
sogar eine gewisse Selbstreinigungskraft:_Der aktuelle
Untersuchungsausschuss ist – ähnlich wie jene zu den Fällen Lucona
und Noricum – ein Beweis dafür.
Das alles entschuldigt keinen Unterschleif, keinen Machtmissbrauch,
keine politische Freunderlwirtschaft.
Es vermag auch nicht wirklich den Ärger über den einen oder anderen
dummen Politiker, über einzelne haarsträubende Fehlentscheidungen
oder gar über weiterbestehende (und leider auch immer wieder neu
entstehende) strukturelle Ungerechtigkeiten zu mildern.
Aber es gibt Hoffnung, dass sich die Verhältnisse bessern. Allen
Unzulänglichkeiten zum Trotz gibt es heute mehr Transparenz im
staatlichen Handeln, mehr Mitsprache in Behördenverfahren bei
gleichzeitig gestiegener unternehmerischer Freiheit als vor 20 oder
30 Jahren.
Viele dieser Fortschritte verdanken wir allerdings nicht einem
entschiedenen Drängen der betroffenen Bürger, ja nicht einmal einem
entschlossenen Reformbemühen der Regierungsparteien. Etliche Reformen
sind nämlich, wie so oft in der österreichischen Geschichte, von oben
gekommen. Quasi als Nebeneffekt des Beitritts zur sonst so wenig
geliebten EU hat Österreich sein Verwaltungs- und Rechtssystem
modernisiert; letzte Woche erst mit der längst überfälligen
Einführung von Verwaltungsgerichten.
Das führt zu einem zwiespältigen Verhältnis gegenüber der Obrigkeit:
Man weiß (nicht zuletzt dank aufmerksamer, manchmal auch
skandalisierender Berichterstattung) heute besser als früher, dass
„die da oben“_ihre Arbeit alles andere als perfekt erledigen. Man
beklagt den Stillstand, der mit einer großen Koalition einhergeht.
Man empfindet die repräsentative Demokratie und ihre Repräsentanten
als schwerfällig und mit der herrschenden Parteistruktur als zu
teuer.
„Nicht reformierbar“ lautet das Urteil in der jüngsten Market-Umfrage
im Auftrag des Standard. Andererseits scheut die satte Mehrheit der
Österreicher jegliche tiefgreifende Veränderung, schon gar jene, für
die man selber streiten, streiken oder persönliche Nachteile im
Interesse des größeren Ganzen in Kauf nehmen müsste.
Allerdings:_Schon relativ kleine Änderungen wie die Einführung eines
Mehrheiten fördernden Wahlrechts würden viel bewirken. Dann könnte
die jeweils stärkste Partei ihren Wählerauftrag erfüllen, ohne allzu
viel Rücksicht auf den (entgegengesetzten) Wählerauftrag an den
Koalitionspartner nehmen zu müssen. Das hieße auch: regieren gegen
eine relativ starke Opposition – und gegen die Interessen vieler
Wähler. Aber die könnten ja beim nächsten Mal die Regierung abwählen
(was im großkoalitionären Klima kaum möglich ist). Und sie könnten
Gesetzesinitiativen einbringen.
Keine allzu üble Perspektive für unser oft mutlos scheinendes Land.

Rückfragehinweis:
Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445

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