Der Tagesspiegel: Genscher mahnt „kraftvolle Entscheidungen“ in der Euro-Krise an / „Das ist die Stunde von Kanzlerin und Vizekanzler“

Berlin – Kurz vor dem deutsch-französischen
Gipfeltreffen zur europäischen Schuldenkrise hat Ex-Außenminister
Hans-Dietrich Genscher Bundeskanzlerin Angela Merkel zu
entschlossenem Handeln aufgefordert. „Das Wichtigste ist jetzt
Vertrauen zu schaffen in unsere Währung. Wenn nicht jetzt, wann dann
kann man auf die notwendige Einsicht in kraftvolle Entscheidungen
rechnen?“, schreibt Genscher in einem Gastbeitrag für den Berliner
„Tagesspiegel“ (Dienstagsausgabe).

Deutschland sei „jetzt gefordert“, schreibt Genscher weiter. Das
dürfe „weder zur Stunde der Merkel-Mäkler noch der
Verantwortungsflüchtlinge aus der Regierungsverantwortung werden. Der
Blick zurück führt nie weiter. Die Opposition bietet Unterstützung
an, das sollte man nicht zurückweisen. Die Verantwortung aber liegt
zuerst bei der Regierung. Das ist die Stunde von Kanzlerin und
Vizekanzler. Sie brauchen und sie verdienen die Unterstützung ihrer
Parteien“. In Zukunft müsse die EU als globaler Akteur „für globale
Regeln auf den Finanzmärkten eintreten, um Transparenz zu schaffen
und mit stabilen Rahmenbedingungen Missbrauchsmöglichkeiten zu
verhindern“. Hier liege eine Bringschuld „der großen westlichen
global Player EU und USA“. Genscher: „Wir dürfen nicht zulassen, dass
neben der Lähmung des amerikanischen Präsidenten durch die Tea-Party-
Leute auch noch Europa durch deren europäische Gesinnungsgenossen an
globaler Zukunftsgestaltung gehindert wird“. Zudem müsse EU-weit die
„notwendige Koordinierung und Zusammenfassung der Wirtschafts-,
Finanz- und Währungspolitik“ jetzt „nachgeholt werden“.

Im folgenden dokumentieren wir den Text im Wortlaut:

Die Welt blickt auf die Begegnung Merkel/Sarkozy. Die Frage ist
erlaubt, warum der polnische Ministerpräsident nicht dabei ist. Ist
nicht Polen heute einer der Wachstumsmotoren in der EU und das als
östliches – und größtes -Beitrittsland? Es gehört nicht zur
Euro-Union – noch nicht, aber betroffen ist es schon. Das Wichtigste
ist jetzt Vertrauen zu schaffen in unsere Währung. Wenn nicht jetzt,
wann dann kann man auf die notwendige Einsicht in kraftvolle
Entscheidungen rechnen? Ermüdend wird von den Kleinmütigen immer
wieder aufgezählt, was alles nicht geschehen darf, aber wenig hört
man von ihnen, wie die Krise überwunden und wie ihre Wiederholung
vermieden werden kann. Das aber verlangt durchzusetzen, was
Wirtschaftsminister Rösler und Finanzminister Schäuble mit der
Forderung nach Stabilität im Euro-Raum meinen. Nicht der Euro ist
falsch, wie die europäischen Neonationalisten zu verstehen geben,
sondern die staatliche Ausgabenpolitik in zahlreichen Ländern ist es.
Nicht die Einführung des Euro war ein Fehler, sondern die Aufweichung
der Stabilitätskriterien war es. Nicht nur die Zahlen waren falsch,
die aus Athen nach Brüssel kamen, sondern falsch war es später der EU
die Möglichkeit zu verweigern, die Richtigkeit der Zahlen zu
überprüfen. Regelverstöße – wenn sie vermieden werden sollen –
verlangen Sanktionen, und dies automatisch. Aus eigener Erfahrung
wissen wir, dass die Schuldenbremse das beste Mittel ist, der
Verführung durch das süße Gift der Staatsverschuldung zu entgehen.
Deutschland hat nach der schrecklichsten Katastrophe seiner
Geschichte – politisch, wirtschaftlich und vor allem moralisch – nach
den dunklen zwölf Jahren die Kraft gefunden, für einen neuen Anfang
mit kühnen Schritten aus der Not heraus, und das Seite an Seite mit
Frankreich. Heute kann man hinzufügen, ohne die sowjetische
Vorherrschaft wäre Polen von Anfang an mit dabei gewesen. Es ist
unbestreitbar und keine Anmaßung, es ist vielmehr unserer Geschichte,
unserer Größe und unserer zentralen Lage geschuldet: In Deutschland
entschied sich, ob es ein handlungsfähiges westliches Bündnis gibt,
ob der freie Teil Europas geeint wird, ob der Westen die Kraft findet
zu einer neuen Politik gegenüber dem Osten, zur Entspannungspolitik,
die es ohne die deutschen Ostverträge und unsere aktive Rolle in der
KSZE nicht gegeben hätte. Und in Deutschland entschied sich in den
80er Jahren, ob es zu einem neuen atomaren Rüstungswettlauf kommt
oder ob der Durchbruch zur nuklearen Abrüstung gelingt – mit dem
Nato-Doppelbeschluss. Auch damals gab es immer Kleinmütige. Als der
Euro eingeführt wurde, gelang es den Euro-Gegnern mit
Totschlagsargumenten wie „keine Wirtschaftregierung in Brüssel“ die
notwendige Koordinierung und Zusammenfassung der Wirtschafts-,
Finanz- und Währungspolitik zu verhindern. Das muss jetzt nachgeholt
werden. Gleichzeitig muss die EU als globaler Akteur für globale
Regeln auf den Finanzmärkten eintreten, um Transparenz zu schaffen
und mit stabilen Rahmenbedingungen Missbrauchsmöglichkeiten zu
verhindern. Hier liegt eine Bringschuld des großen westlichen global
Player EU und USA. Wir dürfen nicht zulassen, dass neben der Lähmung
des amerikanischen Präsidenten durch die Tea-Party- Leute auch noch
Europa durch deren europäische Gesinnungsgenossen an globaler
Zukunftsgestaltung gehindert wird. Wir brauchen eine neue
Weltordnung, die überall als gerecht empfunden werden kann. Niemand
sollte global Player wie Russland, China, Indien, Brasilien oder
Japan unterschätzen oder Afrika vergessen. Unser Land, als Mitglied
der EU, ist jetzt gefordert. Da stehen alle in der Verantwortung. Das
darf weder zur Stunde der Merkel-Mäkler noch der
Verantwortungsflüchtlinge aus der Regierungsverantwortung werden. Der
Blick zurück führt nie weiter. Die Opposition bietet Unterstützung
an, das sollte man nicht zurückweisen. Die Verantwortung aber liegt
zuerst bei der Regierung. Das ist die Stunde von Kanzlerin und
Vizekanzler. Sie brauchen und sie verdienen die Unterstützung ihrer
Parteien.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Außenminister.

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