FT: Eine Rede gegen das Vergessen

Marcel Reich-Ranicki hat alle beeindruckt und
vielen eine Lehre erteilt. Wer glaubt, die Schrecken des Holocaust
allein mit historischen Fakten und Zahlen deutlich machen oder sich
der Todesmaschinerie des Nationalsozialismus vornehmlich mit
moralischen Kategorien oder politischer Betroffenheit nähern zu
können, der wird schnell die Grenzen erkennen. Das dunkelste Kapitel
der deutschen Geschichte lässt sich schwer in Worte fassen. Man kann
das ganze Ausmaß des Leids allenfalls erspüren. Jeder, der der
brüchigen Stimme des 91-jährigen Zeitzeugen im Bundestag lauschte,
wird mehr als in vielen anderen Holocaust-Gedenkreden die unfassbare
Dimension des Grauens, der Verfolgung, der Vernichtung und
Vertreibung erahnt haben. Nein, nicht der Literaturkritiker oder
Historiker Reich-Ranicki sprach, sondern der Zeitzeuge. In seiner
Rede ging es nicht um das gehobene Feuilleton, nicht um
rechthaberischen Streit über Schriftsteller und ihre Werke. Es ging
ums Leben, um die ungeheuren Tiefen menschlichen Hasses, um Tod und
Überleben. Reich-Ranicki musste nicht theoretisieren; er hat das
Leid selbst erfahren. Und trat trotzdem nicht als Ankläger auf,
gebrauchte weder seine scharfe Zunge noch den erhobenen Zeigefinger.
Vielmehr reichte seine eindringliche Schilderung über das eigene
Schicksal hinaus. Der Überlebende des Warschauer Ghettos gab den
vielen unbekannten Opfern des Nationalsozialismus ein Gesicht. Es war
gut, dass der Bundestag einen der letzten Überlebenden des Holocaust
hat zu Wort kommen lassen. Zur eindrucksvollen Mahnung gegen das
Vergessen wurde das Gedenken im Bundestag aber erst durch
Reich-Ranickis so persönliche Rede. Sie unterstrich auf bewegende
Weise den Appell von Bundestagspräsident Norbert Lammert, im Kampf
gegen Rechtsextremismus und Diskriminierung nicht nachzulassen. von
Stephan Richter

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