Ein Kommentar von Christoph Rind
Die Albtraum-Ereignisse in Japan haben vielen Menschen den Boden
unter den Füßen weggezogen. Lesen Sie diesen ersten Satz noch einmal
und fragen sich: Woran denke ich dabei? An unsere Sorge, ob der
Sushi-Thunfisch aus Asien bald verseucht ist oder bald weitere
Lebensmittel? An die Befürchtung, ob verstrahlte Wolken die 9000
Kilometer bis nach Deutschland oder Europa zurücklegen können? An die
Folgen für unsere eigentlich auf Jahrzehnte ausgerichtete
Kraftwerkspolitik? Nach dem ersten Entsetzen über die Furcht
einflößenden Bilder von Gebäuden, Zügen, ja ganzen Ortschaften, die
von einer unheimlichen Riesenwelle naturgewaltig weggespült wurden,
haben wir unser Augenmaß verloren. Denn inzwischen geht es immer
weniger um die tausendfachen Opfer der Katastrophe, jene, die
eigentlich Anspruch auf unser Mitgefühl und unser Mitleid hätten und
die auf schnelle Hilfe angewiesen sind. Wer das Inferno an Japans
Küste überlebt hat, kämpft schon wieder ums Überleben. In den schwer
verwüsteten Regionen fehlt es an Trinkwasser, an Lebensmitteln und
Notunterkünften. Wo vernimmt man zum Beispiel die Bereitschaft der
besorgten Weltöffentlichkeit, all jenen Vieltausenden Menschen eine
Zuflucht zu ermöglichen, die vielleicht bald ihr Zuhause verlieren,
wenn die Zone der Unbewohnbarkeit um Fukushima noch stärker
ausgeweitet wird? Stattdessen hat hierzulande – nach pflichtmäßig
vorgetragenen, flüchtigen Beileidsfloskeln – eine in Teilen
hysterische Diskussion eingesetzt. Auch wenn uns die kulturell
geübte, zur Schau getragene Gelassenheit der Japaner fremd ist,
sollten wir nicht gleich ins verrückte Gegenteil verfallen. Wir
sollten die Wirklichkeit nicht aus den Augen verlieren, sie ist
schlimm genug und bedarf keiner Übertreibung. Selbstverständlich
müssen auch wir aus der nuklearen Katastrophe lernen, selbst wenn
hierzulande weder Beben in vergleichbarer Größe noch verheerende
Tsunamiwellen drohen. Aber bedarf es dazu einer politischen
Kehrtwende innerhalb von dreimal 24 Stunden? Und müssen wir auf dem
Rücken der noch zahllosen Opfer gleich wieder unsere
parteipolitischen Süppchen kochen? Sind unsere Kernkraftwerke, die
auch Rot-Grün noch Jahrzehnte laufen lassen wollte, plötzlich über
Nacht (noch) gefährlicher geworden? An Mahnmalen und Gedenkstätten,
die bei uns an die oft namenlosen Opfer von Gewalt, Terror und Krieg
erinnern, steht manchmal ein Satz, den wir uns heute wieder in
Erinnerung rufen sollten: Vergesst die Opfer nicht!
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