Landeszeitung Lüneburg: „EU ist ohne Ukraine unvollständig“ – Interview mit dem Ukraine-Experten Dr. Michael Hamalij

Regierungsgegner fordern seit Wochen den
Rücktritt des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitscht und einen
Westkurs der früheren Sowjetrepublik. Hunderte Demonstranten harren
auf dem Majdan, dem zentralen Platz in Kiew, aus. Der Protest scheint
Wirkung zu zeigen: Janukowitsch sicherte zu, nicht erneut Gewalt
einzusetzen. Gegenüber EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton deutete er
an, das EU-Assoziierungsabkommen doch unterzeichnen zu wollen. Wohin
führt der Weg der Ukraine? Dr. Michael Hamalij, Mitorganisator der
Fußball-Europameisterschaft 2012 in dem Land, ist sich sicher: „Nach
Europa.“

Ist die Ukraine ein Teil Europas oder gehört sie zum russischen
Vorhof? Dr. Michael Hamalij: Ich denke, diese Frage stellt sich
nicht. Die Ukraine ist klar Teil Europas. Auch die Bevölkerung sieht
sich als Teil der europäischen Familie.

Auch im Osten des Landes mit seiner überwiegend
russisch-orthodoxen Bevölkerung? Dr. Hamalij: Religion spielt in
dieser Frage nur eine untergeordnete Rolle. Dieser Protest
unterscheidet sich deutlich von vorherigen. 1991 gab es im Zuge des
Zerfalls der UdSSR eine Massenbewegung, die die Unabhängigkeit der
Ukraine durchsetzte. 2004 bei der „orangefarbenen Revolution“ ging es
bereits gegen Janukowitsch und dessen Vorgänger Kutchma wegen
massiver Wahlfälschungen. Dieses Mal – und das ist das Positivste –
ist wirklich eine Art gesellschaftlicher Aufbruch. Weite Teile des
Volkes fühlen sich als Europäer, merken zugleich, dass der Präsident
kein Interesse daran hat, das System aus Korruption und Bürokratie
aufzubrechen, das ihn an der Macht hält. Deshalb erleben wir derzeit
auf Kiews Straßen keinen Machtkampf in dem Sinne, dass
Oppositionsparteien die Regierung herausfordern. Tatsächlich sind die
Oppositionspolitiker erst später an Bord gekommen. Der Protest speist
sich aus dem Bedürfnis der Ukrainer, eine Perspektive haben zu
wollen.

Demonstriert in Kiew ein Volk gegen seinen Herrscher oder
protestiert die europäisch orientierte Bevölkerungshälfte gegen die
nach Russland orientierte? Dr. Hamalij: Zwar gibt es regionale
Unterschiede, aber es ist kein Kampf West gegen Ost. Denn selbst in
der Ost-Ukraine fühlt sich die Bevölkerung aus meiner Sicht
mehrheitlich Europa zugehörig. Allerdings ist es im Osten der Ukraine
mit dem dort noch präsenteren staatlichen Unterdrückungsappart sehr
viel schwieriger, auf die Straße zu gehen, um seinen politischen
Willen zu zeigen. Trotz einseitiger Informationen wächst aber auch
dort die Unzufriedenheit, denn in drei Jahren Janukowitsch hat sich
nichts gebessert.

Demnach könnte Janukowitsch nicht noch mal die Bergarbeiter aus
Donezk gegen Protestierer in Marsch setzen? Dr. Hamalij: In den
jüngsten Tagen verdeutlicht sich immer mehr, dass der Präsident als
„Homo Sowjetikus“ bezeichnet werden kann. Massive Polizeiaufgebote,
willkürlich Einsätze gegen die Opposition und Parteizentralen,
schnelle Gerichtsurteile der gleichgeschalteten Justiz und eine
Rhetorik, die an schlimmste Zeiten des Eisernen Vorhangs erinnern.
Dabei ist aber bemerkenswert, dass es in Janukowitschs Hochburg, der
Ost-Ukraine, keine großen und freiwilligen Demonstrationen für ihn
gegeben hat. Das wirft ein Schlaglicht auf die offenbar bestehende
Unzufriedenheit in allen Teilen der ukrainischen Bevölkerung.
Janukowitsch hat nicht zuletzt deswegen massiv an Vertrauen und
Rückhalt eingebüßt, weil sein Sohn innerhalb von zwei Jahren zum
Milliardär wurde. Und das nicht durch harte Arbeit, sondern durch
seine Nähe zu den Fleischtöpfen der Regierung. Wer selbst hart
arbeitet, ohne einen Silberstreif am Himmel zu sehen, empört sich,
wenn die Söhne der Mächtigen derart schamlos schmarotzen.

Wollen die, die in der Kälte der Polizei trotzen, einen
Kurswechsel oder einen Regierungswechsel? Dr. Hamalij: Zunächst mal
sei betont, dass sich alle die verrechnen, die glauben, der
beginnende Winter würde den Protest quasi einfrieren. Wer das glaubt,
unterschätzt die Leidensfähigkeit der Ukrainer. Wer jetzt
protestiert, will einen Systemwechsel und die Annäherung der Ukraine
an die EU. Wünsche, die mit der derzeitigen Regierung nicht
umzusetzen sind. Die jetzige Regierung hat kein Interesse, dass
EU-Vertreter die ukrainische Schattenwirtschaft durchleuchten oder
gar europäische Standards in Sachen seriöser Regierungsarbeit
anmahnen. Wir befinden uns an einem wichten Wendepunkt für die
Ukraine. In den nächsten Wochen wird sich herausstellen, ob der
Volkszorn die Ukraine näher an Europa heranschieben kann oder nicht.

Welche Chancen hat die Opposition, Janukowitsch dennoch auf
West-Kurs zu zwingen? Dr. Hamalij: Die drei Parteien kamen bei den
letzten Wahlen insgesamt auf rund 40 Prozent, Janukowitsch auf 30.
Mit Hilfe der Kommunisten und durch „parteipolitische Überläufer“
konnte die Mehrheit im Parlament gesichert werden. Selbst dieses
Ergebnis könnte Janukowitsch derzeit nicht wiederholen. Neuwahlen
würden also sein Ende bedeuten, sofern sie nicht wieder gefälscht
werden. Das weiß auch die Regierung. Es gibt seit über einem Jahr
keine Bürgermeisterwahl in Kiew, obwohl das Amt seit der Absetzung
des Amtsinhabers lediglich kommissarisch vom Leiter der
Stadtverwaltung ausgeführt wird. Kiew ist eine europäische
Hauptstadt, die Bürger kämpfen hier auch für ihr Wahlrecht und
Demokratie. Hier hätte die Regierungspartei trotz aller Behinderungen
keine Chance und das wissen alle.

Wie einigungsfähig ist die Opposition? Dr. Hamalij: Aus meiner
Sicht wäre es wünschenswert, wenn sich die drei Oppositionsparteien
mit der Partei der Regionen zu einer all-ukrainischen
Regierungskoalition zusammenfinden würden. So würden alle Interessen
berücksichtigt. Bisher mangelte es aber allen Parteien an
Reformwillen. Weil nun aber erstmals die Bevölkerung bereit ist, mit
dem alten Seilschaften-System zu brechen, ziehen die Parteien nach.

War es ein Fehler der EU, die Assoziierung von der Freilassung
Julija Timoschenkos abhängig zu machen? Dr. Hamalij: Nein, weil sich
eigentlich schon vor drei Jahren angedeutet hat, wohin die Reise der
Ukraine unter diesem Präsidenten gehen würde. Zudem ist Frau
Timoschenko keine Heilige, die unbedingt unterstützt werden müsste.
Der europäischste der ukrainischen Politiker ist Vitali Klitschko.
Obwohl der sein erboxtes Geld auch auf einer Yacht verprassen könnte,
engagiert er sich in seinem Heimatland. Das muss man ihm hoch
anrechnen. Ihm traue ich am ehesten zu, dass System auszuknocken.
Abzuwarten bleibt, wie hart das System zurückschlägt. Schon ermittelt
die Staatsanwaltschaft wegen vermeintlicher Umsturzpläne. Das sind
natürlich gefährliche Werkzeuge, um Oppositionelle wegzusperren. In
einem solchen Fall bliebe den Protestierern nur der zivile
Ungehorsam, etwa über Streiks.

Hat Europa in den Assoziierungsverhandlungen zu wenig Hilfe
angeboten? Dr. Hamalij: Nein, da Janukowitsch ohnehin sein Spiel
spielte, die europäische Karte lediglich zog, um in Moskau mehr
herauszuhandeln. Es wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, sich der EU
anzunähern. Schon seit Jahren fließt Kapital aus der Ukraine ab. Neue
Investoren bleiben spärlich, weil die Rechtssicherheit im Lande
fehlt. Die europäische Familie hat in ihrer Geschichte eine solche
Bewegung nicht erlebt. Der Wunsch der Ukrainer sollte alle
EU-Kritiker durchschütteln. Die Wertegemeinschaft der EU ist ein
kostbares Gut, wofür sich Zehntausende trotz eisiger Temperaturen
einsetzen. Die EU muss nun handeln, mit den entscheidenden Politikern
und Oligarchen müssen Gespräche geführt und Ängste in Bezug auf ein
wirtschaftliches Desaster bei einer Assozierung genommen werden. Dies
kann nur durch Kooperation und vertrauensbildende Maßnahmen
geschaffen werden.

Wäre eine Anbindung der Ukraine an Europa nicht zu gefährlich
wegen der zu erwartenden russischen Reaktion? Dr. Hamalij: Die
Ukraine ist souverän. Wendet sie sich Europa zu, müsste dies auch
Moskau akzeptieren. Druck könnte Russland natürlich wirtschaftlich
aufbauen, etwa, indem es den Gashahn zudreht. Hier kann die Ukraine
nur darauf bauen, dass die EU einspringen würde. Dass sie
ukrainischen Produkten auf dem europäischen Markt eine Nische
einräumen würde. Nur so könnte die Wiederholung der Erfahrung der
neuen Bundesländer verhindert werden, in denen die Unternehmer nach
der Wiedervereinigung zusammenklappten. Die protestierenden Menschen
wollen keinen Bruch mit Moskau. Dazu gibt es wirtschaftlich und
kulturell zu viele Verbindungen. Die größeren Perspektiven erkennen
die Bürger allerdings in Richtung Europa.

Würde sich die EU verheben, wenn es den weitgehend maroden Brocken
Ukraine andocken würde? Dr. Hamalij: Niemand erwartet, dass die EU
jährlich zig Milliarden in die Ukraine pumpt. Und klar ist auch, dass
der Transformationsprozess in einem Land schwer zu bewältigen ist,
das flächenmäßig das größte Europas ist und immerhin 47 Millionen
Einwohner hat. Ich denke, das Bewusstsein ist in der Ukraine
vorhanden, dass eine Annäherung an die EU harte Zeiten
heraufbeschwören würde. Viel schlimmer kann es allerdings bei einem
Durchschnittsverdienst von 500 Euro nicht kommen. Doch wer ein
Wirtschaftssystem ändert, macht es für die Zukunft der Kinder und
Enkel. Das ist Antrieb genug.

Könnte es die Chancen der EU als Global Player sogar stärken, wenn
es ein Schwergewicht wie die Ukraine aufnimmt? Dr. Hamalij: Auf
jeden Fall. Europa ist ohne die Ukraine nicht vollständig. Die
Voraussetzungen dafür, dass die Ukraine ein Schwergewicht wird, sind
vorhanden. Die jungen Menschen sind gut ausgebildet, sind oft
mehrsprachig. Werden die Rahmenbedingungen geschaffen über den Aufbau
eines Rechtsstaates und die Trockenlegung des Korruptionssumpfes,
steigen die Chancen für einen Aufschwung. Und: Das europäische Haus
ist ohne die Ukraine nicht vollendet.

Das Interview führte Joachim Zießler

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