Es war ein ergreifender Moment, als Marcel
Reich-Ranicki gestern an das Rednerpult des Deutschen Bundestages
trat. Selten hat das deutsche Parlament, selten hat das Land als
Ganzes eine so tiefgehende, bewegende Rede zum Gedenken an die
Millionen Opfer der Shoah erlebt, wie es gestern in Berlin der Fall
war. Doch die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate zeigen auf
beklemmende Weise, dass es nicht nur beim Gedenken bleiben darf:
Jahrelang konnte die Zwickauer Terrorzelle mordend durch Deutschland
ziehen, ohne dass Polizisten und Verfassungsschützer ihrem Treiben
ein Ende bereiteten. Da ist es gut, wichtig und richtig, dass der
Bundestag nun mit einem Untersuchungsausschuss den Versäumnissen der
Sicherheitsbehörden auf die Spur kommen will. Doch die eigentlichen
Probleme liegen wohl woanders: Wenn der am Montag vorgestellte
Antisemitismus-Bericht konstatiert, dass 20 Prozent der Deutschen
„latent antisemitisch“ seien und es keine Gesamtstrategie zur
Bekämpfung dieses Problems gebe, dürften die Alarmglocken dieses
Landes aus dem Läuten eigentlich nicht mehr herauskommen. Wenn eines
der Ergebnisse des am Dienstag durchgeführten Rechtextremismusgipfels
ist, dass ein Koordinationszentrum eingerichtet werden soll, weil der
Wissenstransfer zwischen den geförderten Modellprojekten gegen Rechts
nicht wirklich funktioniert, ist es mehr als nur überfällig, nach der
Wirksamkeit des bisherigen Kampfes gegen den Rechtsextremismus zu
fragen. Wenn braune Hohlköpfe Jahr für Jahr das Gedenken an
die Bombennacht von Dresden für ihre dumpfen Ideologien missbrauchen,
darf das nicht länger nur der Anlass für einen Aufstand der
Anständigen und ein fast schon selbstverständliches, ritualisiertes
Zeichen des Protests dagegen sein. Denn so nötig und wichtig
Gegendemonstrationen sind: Strukturelle Probleme beseitigen sie
nicht. Es braucht ein neues Nachdenken darüber, warum es
Rechtsextremisten immer wieder neu gelingt, junge Menschen in ihren
Bann zu ziehen. Es braucht ein neues Nachdenken darüber, warum bei
einer bestimmten Gruppe der Bevölkerung scheinbar alle Aufklärung
versagt – und wie die Gesellschaft diese Menschen erreichen und vom
freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat überzeugen kann. Deutschland
darf sich niemals damit abfinden, dass 67Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs in Landtagen und an Stammtischen, auf
Schulhöfen und Fußballplätzen weiter braunes Gedankengut gepflegt
wird. Das sind wir ihnen schuldig, den Millionen Opfern der Shoah.
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