Mittelbayerische Zeitung: Leitartikel zum Urteil Sicherungsverwahrung

Immer wieder rütteln die Richter des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte an den Türen des
deutschen Rechtsstaates. Immer wieder rügen sie das deutsche Gesetz
zur Sicherungsverwahrung. Wir brauchen Gesetze, die den Bürgern
draußen Sicherheit geben und die Menschenrechte der weggesperrten
Bürger wahrt. Die Verantwortung ist groß. Größere Sorgfalt und mehr
als ein ärztliches Gutachten als Grundlage für eine Freilassung und
ebenso für die passende Unterbringung in Gefängnis oder Klinik sind
gefragt. Fehlentscheidungen gegenüber den freien Bürgern aber auch
gegenüber den inhaftierten sind unverzeihlich. Jemand, der psychisch
Hilfe braucht, muss sie bekommen. Wer noch nicht vertrauenswürdig
ist, muss eingeschlossen bleiben, damit es zu keinem Rückfall kommt.
Doch wie die deutsche Justiz Sicherungsverwahrte momentan noch
behandelt, verstößt gegen unsere eigenen Regeln. Wenn wir ehrlich
sind, passt das nicht zu dem, was wir uns selbst ins deutsche
Grundgesetzbuch geschrieben haben. Zuerst geht es gegen das
Rechtsverständnis, das uns als Gesellschaft moralisch zusammenhalten
soll. Und im zweiten Schritt werden wir den Abmachungen gegenüber den
europäischen Partnern nicht gerecht. Die Deutschen müssen dieses
heiße Eisen anpacken. Denn egal, was einer oder eine verbrochen hat,
er und sie bleiben immer noch Mitmenschen. Die kann man nicht in
einer Zelle vergammeln lassen, damit wir ruhiger schlafen.
Straftäter, die zu Recht in Haft sitzen und es verdienen, zur
Sicherheit der Bürger ein Leben zwischen Gefängnismauern zu fristen,
sollten wir nicht aufgeben. „Jeder hat das Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist
unverletzlich“, heißt es in Artikel 2 des Grundgesetzes. Wer sich die
Freiheit einmal durch eine Straftat verspielt hat, sollte die Chance
erhalten, ihr wieder näher zu kommen. Nicht anders als die
„Nicht-Kriminellen“ brauchen Straftäter eine Perspektive. Und genauso
wie nicht-kriminelle Menschen mit psychischen Problemen haben sie ein
Recht auf Therapien, die ihnen ein Leben in Freiheit möglich machen
können. Doch Therapien von der Stange passen auch für Menschen
außerhalb der Gefängnismauern meist nicht auf Anhieb. Jemand muss das
Geld für kleine Einrichtungen und intensivere Therapien locker
machen, die so weit spezialisiert sind, dass ein Erfolg realistisch
ist. Und dazu müssen die nationalen Justizorgane untereinander und
auch mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die
Zuständigkeiten klar organisieren. Die Straßburger Richter mahnten in
Richtung Deutschland, dass sich die Unterbringung in
Sicherungsverwahrung im Fall von H. kaum von der normalen Strafhaft
unterscheide. Durch geringfügige Verbesserungen ließe sich der
Gerichtshof über diesen Missstand nicht hinwegtäuschen. Damit griff
er das Leiturteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Mai auf, das
ebenfalls den geringen Unterschied zwischen Verwahrung und Strafhaft
als ungenügend bemängelte. Die Jahre in Verwahrung nach der Strafhaft
sollten vom ersten Tag genutzt werden, die Menschen wieder Schritt
für Schritt an ein Leben mit anderen in Freiheit heranzuführen. Sie
brauchen das Gefühl und die Perspektive, dass sie sich spürbar auf
ein normales Leben hinbewegen: Dazu gehört, einen Computer benutzen
zu dürfen, ein Fenster in der Zelle, Arbeit in der Einrichtung und
mehr sozialer Austausch.

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