Wenn heute die Fahnen in NRW auf Halbmast wehen
und unsere Kinder „Warum eigentlich?“ fragen – hätten wir es spontan
gewusst? Würden wir uns ohne Hilfe an diesen Anachronismus des
Mauerbaus erinnert haben, der heute vor 50 Jahren den meisten
Menschen – auf beiden Seiten dieses angeblichen „antifaschistischen
Schutzwalls“ – das fassungslose Entsetzen ins Gesicht schrieb? Die
Siebzigjährigen und Älteren bestimmt. Die Sechzigjährigen vermutlich.
Die Fünzigjährigen vielleicht. Aber die Vierzig-, Dreißig- und
Zwanzigjährigen brauchen ein paar Augenblicke länger, um die
Besonderheit des Datums zu erkennnen. Dass dies so ist, hat nichts
mit Geschichtslosigkeit zu tun. Es ist ein Ausdruck des
demokratischen deutschen Lebensgefühls, das sich in einem freien
Europa grenzenlos – sieht man ab von den auf Druck der Rechtsextremen
wieder eingeführten Kontrollen an Dänemarks Staatsgrenzen – bewegen
kann. Die Mauer, ein Schandmal für das Menschenrecht, ist für viele
Bürger nur noch Vergangenheit. Und das ist auch gut so. Dass wir
gleichwohl des 13. Augusts 1961 in Trauer gedenken, hat gute Gründe.
Mehrere hundert Menschen sind danach an der innerdeutschen Grenze
gestorben. Die Bilanz des Zentrums für Zeithistorische Forschung
listet mindestens 136 Maueropfer, darunter 98 DDR-Flüchtlinge, 30
Personen aus Ost und West, die ohne Fluchtabsicht verunglückten oder
erschossen wurden, und 8 im Dienst getötete Grenzsoldaten auf.
Mittelbar ist die Zahl höher, weil 251 Menschen bei oder nach den
Grenzkontrollen eines natürlichen Todes – hauptsächlich durch
Herzinfarkt – starben. Ausgerechnet heute, zu diesem besonderen
Jahrestag, leistet sich ausgerechnet die Linkspartei, die die
Nachfolge der SED aus der DDR angetreten hat und sich bis heute in
deren Tradition versteht, eine rechtfertigende Debatte über Gründe
für den Mauerbau. Parteichefin Gesine Lötzsch nennt ihn eine Folge
des Zweiten Weltkriegs. Die Ex-Generäle der DDR-Volksarmee, Fritz
Streletz und Heinz Keßler, rechtfertigen die innerdeutsche Grenze in
ihrem Buch „Ohne Mauer hätte es Krieg gegeben“ gar als Friedenswerk.
Ein Schlag ins Gesicht der an der Grenze ermordeten Bürger. Das darf
man weder der Linkspartei noch den Epigonen des DDR-Militärs
durchgehen lassen. Sie verklären Geschichte. Sie verneinen
historische Schuld. Vor allem ihre eigene. „Das ist so die
Geschichtssicht von geschichtslosen Menschen, die irgendetwas
verdecken und verschleiern und beschönigen wollen und jeden
Schuldigen in der Weltgeschichte suchen, aber den wichtigsten, den
sie finden sollten, finden sie nicht, nämlich sich selbst“, sagt
Liedermacher Wolf Biermann, der 1976 als Kritiker der DDR von ihr
ausgebürgert wurde. So ist es! Heute vor 50 Jahren wurde die Mauer
gebaut. Daran erinnert die Halbmast-Beflaggung in NRW. Zu Recht. Die
Mauer ist inzwischen gefallen. Man erwartet, dass aus diesen Ruinen
nichts mehr aufersteht.
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