Neue Westfälische (Bielefeld): KOMMENTAR Noch eine Woche bis zur Bundestagswahl Auf der Zielgeraden THOMAS SEIM

Wer hätte gedacht, dass die Bundestagswahl doch
noch einmal spannend werden würde? Zwar sieht es nach den letzten
Umfragen nicht so aus, als könne ein rot-grünes Bündnis allein
mehrheitsfähig werden. Aber ebenso unsicher muss sich die
schwarz-gelbe Regierungskoalition derzeit fühlen, deren
Mehrheitsfähigkeit keineswegs sicher ist. Immer mehr deutet darauf
hin, dass sich am Abend des 22. September die Parteien darauf
einstellen müssen, dass es nur zwei Optionen für eine
Mehrheitsbildung gibt, wenn es für Schwarz-Gelb nicht reicht: Neben
der großen Koalition bleibt dann die Kombination aus Union und Grünen
realistisch. Schwarz-Grün wäre für beide Partner nicht
unproblematisch: In den Ländern gibt es kein funktionierendes
Vorbild. Eine Koalition müsste gegen den Bundesrat regieren. Außerdem
steht den Grünen eine schwierige interne Debatte bevor. Die
Umfrageverluste zuletzt deuten auf eine tief sitzende Uneinigkeit
zwischen dem ehemaligen Realo-Flügel, der heute am ehesten von den
baden-württembergischen Grünen um Ministerpräsident Kretschmann
repräsentiert wird, und dem eher linken Flügel um Jürgen Trittin, den
viele Grünen-Funktionäre hinter vorgehaltener Hand bereits wegen der
Steuerprogrammatik für schlechte Umfragewerte verantwortlich machen.
Das ist keine stabile Basis für ein Regierungsbündnis. Angela Merkel
weiß das. In den Hinterzimmern des Bundeskanzleramtes wird deswegen
schon lange nachgedacht über die Strategie für den Wahlabend, falls
es für Schwarz-Gelb nicht reicht. Merkel setzt dann klar auf eine
Koalition mit der SPD. Sie ahnt, dass die Sozialdemokratie zwar
versuchen wird, sie aus dem Amt zu drängen. Sie glaubt aber auch,
dass der SPD am Ende dazu die nötige Kraft fehlen wird. Auch deshalb,
weil es ungeachtet ihrer Vorliebe für eine große Koalition das
Faustpfand einer grünen Alternative gäbe. In der SPD sind seit dieser
Woche jene Kräfte, die auf eine Oppositionsrolle setzen wollen,
schwächer geworden. Beigetragen haben dazu die Gerüchte um einen
angeblichen Versuch des Hamburger Bürgermeisters Scholz, mit einer
Rückbesinnung auf sozialliberale Traditionen SPD-Chef Sigmar Gabriel
nach der Wahl abzulösen. Zwar haben die starken SPD-Landesverbände
nach wie vor eine gewisse Sympathie dafür, sich nicht erneut als
kleinerer Partner auf ein Bündnis mit einer Kanzlerin Merkel
einzulassen, wie Steinbrück das überraschend eine Woche vor der Wahl
andeutet. Dagegen aber stehen Bundespartei und die
Bundestagsfraktion. Beide hoffen, dass nach einem denkbaren Rückzug
Merkels zur Mitte der Legislatur die Chancen für einen Aufstieg der
SPD zur stärksten Partei greifbar werden könnten. So ist die Lage
acht Tage vor der Bundestags- und am Tag vor der Bayernwahl. Am
Sonntagabend werden wir wissen, ob und wie letztere das politische
Spielfeld der Schlusswoche für den Bund verändert. Womöglich sind
alle diese Spielchen dann Makulatur und es reicht doch noch für
Schwarz-Gelb.

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