Polizeigewalt – Exklusive Auswertung der Ruhr-Universität Bochum / 90 Prozent der Ermittlungsverfahren wegen rechtswidriger Polizeigewalt werden eingestellt / Unabhängige Ermittlungsstelle gefordert

Die Bundesrepublik hat ein strukturelles Problem mit
rechtswidriger Polizeigewalt. Das ergab eine Auswertung des
Kriminologen und Juristen Prof. Tobias Singelnstein von der
Ruhr-Universität Bochum in Zusammenarbeit mit dem ARD-Politikmagazin
„Report Mainz“. So gab es 2016 2383 Ermittlungsverfahren gegen
Polizeibeamte wegen rechtswidriger Gewaltausübung. Dennoch wurden 90
Prozent der Verfahren eingestellt (2132). In nur 2,34 Prozent der
Fälle wurde Anklage erhoben bzw. ein Strafbefehl erlassen.

Als Grund für die hohe Zahl der eingestellten Verfahren nennt
Prof. Tobias Singelnstein die besondere institutionelle Nähe der
ermittelnden Behörden, also der Polizei und der Staatsanwaltschaft,
zu den beschuldigten Polizeibeamten. Deswegen fordert der
Wissenschaftler die Einrichtung einer unabhängigen Ermittlungsstelle.
„Besser wäre es, das Ganze auf eine Art und Weise zu lösen, wie das
auch andere Länder tun, das heißt eine eigenständige Institution zu
schaffen, die auch für solche Vorfälle zuständig ist“, sagte
Singelnstein im Interview mit „Report Mainz“.

Die Zahlen der Vorjahre von 2010 bis 2015 bestätigen die Existenz
eines strukturellen Problems. Im Schnitt kommt es seit 2010 jeden Tag
zu sechs rechtswidrigen Übergriffen durch Polizeibeamte, die zu
Aufnahme eines Ermittlungsverfahrens führen. Betrachtet man den
gesamten Zeitraum, dann wurden rund 90 Prozent der Verfahren
eingestellt. In nur rund drei Prozent kam es zu Anklagen bzw.
Strafbefehlen. Über die Zahl der Verurteilungen gibt es keine Zahlen.

Ein hochrangiger Polizeibeamter, der seit mehr als 15 Jahren im
aktiven Dienst ist, bestätigt die Erkenntnisse des Wissenschaftlers.
Er sagte im TV-Interview: „Ich kenne die Statistiken. Das ist
rechtswidrig, was da passiert. Da wird nicht sauber ermittelt. Meines
Erachtens gehört eine unabhängige Prüfungsstelle dazwischen
geschaltet, die ordentlich ermittelt.“

Hintergrund des Berichtes von „Report Mainz“ ist ein Vorfall von
mutmaßlicher Polizeigewalt in der Stuttgarter Innenstadt vom 19.
Februar 2017. Nach einem Autounfall prügeln vier Polizeibeamte auf
einen wehrlosen Mann ein. Das dokumentieren ein über neun Minuten
langes Video und mehr als 230 Fotos, die „Report Mainz“ eingesehen
hat. Das Video zeigt mindestens zehn Stockschläge und mindestens
sechs außerordentliche starke Fausthiebe auf einen am Boden liegenden
wehrlosen Mann. Zeugen am Tatort bestätigen im „Report
Mainz“-Interview, dass von dem Opfer keinerlei Gewalt ausgegangen
sei. Ärztliche Atteste und Fotos des Geschädigten zeigen starke
Hämatome im Gesichtsbereich. Zwei Experten bezeichnen die auf dem
Video dokumentierte Gewalt als kriminell.

Doch das Polizeipräsidium Stuttgart stellte den Vorfall in einer
Pressemitteilung vom gleichen Tag ganz anders dar: Da ist die Rede
von einem rabiaten Beifahrer, der gegen einen Polizisten tätlich
wurde. Entsprechend negativ ist die Berichterstattung über das Opfer.
Gegen ihn wird bis heute wegen Widerstandes gegen
Vollstreckungsbeamte strafrechtlich ermittelt. Denn die vier
beteiligten Polizisten gaben später gleichlautende dienstliche
Erklärungen ab, er habe einen Beamten angegriffen. Doch davon ist
weder auf dem Video noch auf den Fotos etwas zu erkennen und Zeugen
am Tatort haben ein solches Verhalten auch nicht beobachtet.

Befragt nach solchen falschen dienstlichen Erklärungen, sagte der
hochrangige Polizeibeamte: „Jeder Vorgang lässt sich so verändern,
dass das rechtswidrige Verhalten von Seiten der Polizei dem Gegenüber
angelastet werden kann. Und das kann man mit ein paar Änderungen vom
Sachverhalt erreichen. Das wird so hingebogen, dass es dann auch vor
Gericht Bestand hat. Und da fragt kein Staatsanwalt nach, da fragt
niemand nach.“

Nach 15 Jahren Forschung zur Polizeigewalt weiß Prof.
Singelnstein: „Das ist eine Struktur innerhalb der Polizei. Das kommt
relativ häufig vor. In der Kriminologie sprechen wir von der Mauer
des Schweigens, die auf dem besonderen Korpsgeist, der innerhalb der
Polizei herrscht, basiert. Und es gilt innerhalb der Polizei als
untunlich, diese Basis zu verlassen und die Kollegen zu
beschuldigen.“

Im Stuttgarter Fall wurde nur wegen des Video- und Fotomaterials
überhaupt gegen die Beamten ermittelt. Allerdings sind gegen drei von
vier an der Prügelattacke beteiligten Beamten die Verfahren
inzwischen eingestellt worden. Vor wenigen Tagen wurde ein Beamter
angeklagt – wegen Körperverletzung im Amt und Verfolgung
Unschuldiger. Gegen ihn wird vor dem Amtsgericht Stuttgart im
September verhandelt.

Zitate gegen Quellenangabe frei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an „Report Mainz“, Tel. 06131 929
33351 oder -33352.

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