Rheinische Post: Die Lehren des leeren Stuhls

Kommentar Von Sven Gösmann

Die Strahlkraft und Bedeutung von
Veranstaltungen erwächst in der Regel aus der Strahlkraft und
Bedeutung der Anwesenden. Die Verleihung des Friedensnobelpreises in
Oslo setzt diese Regel außer Kraft. Denn das Bild des leeren Stuhls,
auf dem Friedensnobelpreisträger Liu Xiabo hätte sitzen sollen, geht
um die Welt. Und dieses Bild des leeren Stuhls erzählt mehr über die
chinesische Diktatur als alle klugen Analysen. Es widerlegt zudem das
Pekinger Geprotze mit wirtschaftlichen Wachstumszahlen oder unsere
Bewunderung für die Wolkenkratzer von Shanghai. Die „Volksrepublik“
schert sich nicht um das Volk, sondern um das Wohl ihrer
Machtcliquen. Mit Repression und Abschaltung des Grenzen
überspringenden, subversiven Wissens des Internets versucht die
kommunistische Führung, ihr Riesenreich im Zaum zu halten. Doch ein
einzelner Mann, der sich den Mund nicht verbieten lassen wollte,
bringt die Staatsmacht aus der Fassung. Das ist die Lehre des leeren
Stuhls von Oslo: Liu Xiabo, weggesperrt irgendwo in China, kann im
Moment nicht zur Welt sprechen. Doch seine Botschaft ist trotzdem
gehört worden. Das Nobelpreiskomitee hat auch deshalb diesmal, ein
Jahr nach der verfrühten Auszeichnung Barack Obamas, eine kluge Wahl
getroffen.

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