Schwäbische Zeitung: Die Demokratie lebt vom Wechsel – Leitartikel

Nostalgiker werden sagen, dass Veranstaltungen
zum politischen Aschermittwoch früher besser unterhielten. Im Kern
ging es vor allem um grobschlächtig vorgetragene Kritik an den Werten
der anderen Seite und nur am Rande um die sachliche
Auseinandersetzung. Ganz verschwunden sind die Rituale zwar nicht. In
Zeiten, in denen die politische Landschaft bunter geworden ist, fällt
es den Polarisierern aber zunehmend schwer, Gehör zu finden. Die
Bürgerschaft ist wachsamer geworden, misstrauischer – und flexibler.
Auch deshalb sind die großen Volksparteien so stark ins Trudeln
geraten.

Nach 58 Jahren an der Macht muss die CDU in Baden-Württemberg die
neuen Koordinaten der Politik erst noch verinnerlichen. Deshalb
fielen gestern ihre Angriffe auf Grün-Rot etwas derber aus als der
Disput an manch anderer Stelle. Die Enttäuschung ist nun mal groß,
weil die CDU dieses Land so stark gemacht hat. Abgewählt worden ist
sie aber wegen der Schwächen, Politik und ihre Winkelzüge glaubhaft
zu vermitteln. Natürlich ist der Grüne Winfried Kretschmann auch
wegen der Atomkatastrophe in Japan Ministerpräsident geworden. Das
hat die Wechselstimmung verstärkt, es hat sie nicht angestoßen.
Mindestens genauso stark hat er davon profitiert, dass die hektisch
in Berlin eingefädelte Energiewende in der Bevölkerung vor allem als
taktischer Schachzug kurz vor der Wahl wahrgenommen worden ist.

An die Macht gekommen ist Kretschmann auch, weil die Grünen
politisch stark den Widerstand gegen das Milliardenprojekt Stuttgart
21 bündelten. Die Mehrheit erhielten sie dafür beim Volksentscheid
nicht. Die Grünen stehen nach wie vor distanziert zum Bahnhofsumbau
in Stuttgart. Doch Grün-Rot nimmt, mal mehr, mal weniger knirschend,
die Entscheidung für Stuttgart 21 als klaren Handlungsauftrag hin.
Deshalb laufen Forderungen nach dem Rücktritt dieser Landesregierung
ins Leere. Die Demokratie lebt vom Wechsel. Schnelle Wechsel nach
Tageslaunen schaden ihr.

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