Schwäbische Zeitung: Kultur des Selbstmitleids – Leitartikel

Ursula von der Leyen will die Arbeitnehmer vor
ständiger Erreichbarkeit schützen. Damit spricht die fürsorgliche
Arbeitsministerin vielen aus der Seele. Sicherlich hat sie recht,
dass es der Erholung nicht eben zuträglich ist, im Gasthaus, Kino
oder Bett die Mails vom Chef zu lesen. Die Aus-Taste ist der
wichtigste Knopf am Telefon.

In Wahrheit geht es aber nicht ums Handy, sondern um die
Einstellung zur Arbeit generell. Der Eifer, mit dem viele
Arbeitnehmer derzeit Belege suchen, dass sie so viel und so hart
arbeiten wie kaum eine Generation zuvor, trägt Züge kollektiven
Wahns. Tausende lassen sich ermattet in Sanatorien einweisen –
Diagnose: Burn-out – und nehmen wirklich Kranken Therapieplätze weg.

Weinerlich schwärmen viele der Ausgebrannten von der
entschleunigten Zeit ohne Handy und Computer. Gute alte Zeit, zwei
Generationen zuvor? Als sich viele Menschen auch bei uns noch als
Mägde verdingten? Als Bergarbeiter mit Muskelkraft Kohle aus dem Fels
brachen? Gemessen am Leben der Großeltern geht es den meisten von uns
gut.

Und doch bricht sich eine Kultur des Selbstmitleids Bahn. Dies ist
womöglich dadurch zu erklären, dass sich die Deutschen an falschen
Vorbildern orientieren. Warum Opfer bringen, während Konzerne
Steuerschlupflöcher nutzen? Warum die Ärmel hochkrempeln, während
Spekulanten Abermillionen scheffeln? Die Sehnsucht, sich zurücklehnen
zu wollen, ist auch eine Antwort der Arbeiter und Angestellten auf
die Maßlosigkeit der Elite. Und doch liegen sie falsch. Wir brauchen
keine Entschleunigung, sondern mehr Tempo. Deutschland muss im
eigenen Interesse wachsen, und dazu noch halb Europa mitziehen. Ein
Land, das seinen Wohlstand dadurch erwirtschaftet, dass es Waren in
alle Welt exportiert, kann nicht aufs Bremspedal treten. Jahr für
Jahr müssen sich die Deutschen neu behaupten: gegen aufstiegshungrige
Rivalen aus Indien oder China. Dort sind nicht nur Handys nachts
eingeschaltet. Dort arbeiten auch Friseure und Baukolonnen rund um
die Uhr.

Pressekontakt:
Schwäbische Zeitung
Redaktion
Telefon: 07561-80 100
redaktion@schwaebische-zeitung.de