Schwäbische Zeitung: Selbstgerechte Anklage – Leitartikel

Anstatt den selbsternannten Mahner Grass zu
ignorieren, wertet Israel ihn und sein Geschreibsel zu aktuellen
Entwicklungen im Nahen Osten auch noch auf. Oder wie ist es anders zu
erklären, dass die einzige wirklich funktionierende Demokratie im
Nahen Osten einen Mann mit einem Einreiseverbot belegt, der keine
Straftat begangen hat, sondern eine Geschmacklosigkeit?

Der Fall Grass zeigt uns einiges über Deutschland und manches über
Israel: Hierzulande ist der Literaturnobelpreisträger nicht mehr die
moralische Instanz, als die er sich gerne sieht. Das war er
vielleicht damals, als er noch Wahlkampf für Willy Brandt machte, als
Grass sich als Mitglied der Gruppe 47 zu Ereignissen im
postfaschistischen Deutschland äußerte. Aber schon damals schienen
die Einlassungen eines Heinrich Böll für die deutsche Öffentlichkeit
wichtiger als die gerne unwirschen Äußerungen des
Blechtrommel-Autors.

Die breite deutsche Öffentlichkeit nimmt die Aufregung in manchen
Feuilletons sowieso kaum wahr. Und die deutsche Politik kümmert sich
lieber um das Betreuungsgeld und die Spritpreise als um die
selbstgerechte Anklage eines Mannes, der mit seiner eigenen
nationalsozialistischen Vergangenheit nicht so offen umging, wie er
das früher von anderen forderte.

Die rechtskonservative Regierung Netanjahu lässt im Falle Grass
jegliche Gelassenheit vermissen. In der den Israelis eigenen
Philosophie des Auge-um-Auge-und-Zahn-um-Zahn erklärt das
Innenministerium den Greis aus Schleswig-Holstein populistisch zur
Persona non grata. An den Vorbereitungen eines Erstschlags der
Israelis gegen iranische Atomanlagen ändert all das natürlich nichts.
Die Diskussionen in Israel um Sinn und Unsinn eines solchen riskanten
Angriffs gegen den Iran bewegen sich auf hohem Niveau. Es wird
debattiert, gestritten und kritisiert. Und das nicht seit gestern,
sondern seit Jahren. Die schlechten Verse von Grass werden daran
nichts ändern können.

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