WAZ: Das Projekt heißt Marktwirtschaft – Leitartikel von Ulrich Reitz

Ob aus diesen weltweiten Protesten eine politische
Bewegung wird? Niemand weiß das, kann es wissen. Sicher aber ist,
dass sehr viele Menschen die Motive von „Besetzt die Wall Street“
teilen. Das Grundgefühl ist dasselbe, bei denen, die auf die Straße
gehen und jenen, die lieber empört oder enttäuscht daheim bleiben. Es
gibt eine Finanzkrise, die kaum noch jemand durchschaut, die aber
bedroht, was sich Generationen aufgebaut haben: ihren Wohlstand. Aus
Banken sind Wutobjekte geworden. Und die Kritik an jener Form des
Finanzkapitalismus, die Mitte der achtziger Jahre entstand, kennt
keine parteipolitischen Grenzen. Der Bundesverband der Deutschen
Industrie lehnt eine abgehobene, von tatsächlichen Produkten
entkoppelte Finanzindustrie ab – er ist die Lobby der Realwirtschaft.
Der DGB hat denselben Feind, denn die Banken- und Staatsretterei
bedroht die Guthaben auch kleinerer und mittlerer Verdiener.
Mittelständler aus der CDU sind gegen den Kasino-Kapitalismus, weil
er den Kapitalismus bedroht. Der Verstoß gegen elementare
marktwirtschaftliche Prinzipien, etwa Risiko und Verantwortung, macht
aus Marktwirtschaftlern Anti-Kapitalisten. Die Schulden haben die
Staaten gemacht. Die Politik war gierig auf Anerkennung als
Wohltäter. Aber die Banken haben die Schulden nicht nur finanziert,
sie wollten zusätzlich verdienen. Sie waren gierig aufs Geld. Mit den
Jahren entstand eine Finanzindustrie mit mathematisch
durchkonstruierten Werkzeugen, die Spitzenrenditen ermöglicht, die
mit normalem Unternehmertum so gut wie nichts mehr zu tun haben. Dass
die Deutsche Bank sich bald von einem Investmentbanker, Anshu Jain,
führen lässt, ist so konsequent wie deprimierend. SPD-Chef Gabriel
hat recht, wenn er die Trennung von Investment- und Handelsbanking
fordert. Er springt nur zu kurz. Man wird Banken, genauer:
Großbanken, zerschlagen müssen. Der Grund: Sie sind zu groß, um zu
scheitern. Bleibt nur deren Rettung. Der Ausweg: kleinere Banken. Und
bestimmte Geschäfte müssen verboten werden. Parallel müssen
Regierungen lernen, dass kein Land auf Dauer über seine Verhältnisse
leben kann. Fazit: Es ist Zeit, die Marktwirtschaft neu zu erfinden.
Dazu leisten die Proteste einen Beitrag. Unsere soziale
Marktwirtschaft ist zu wichtig, um sie von unverantwortlichen
Regierungen und abgehobenen Finanzmarkt-Zockern gefährden zu lassen.

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