Apokalyptische Szenen in London, ein Königreich, das
tagelang in Anarchie versinkt – diese Bilder sind zutiefst
verstörend. Noch verwirrender ist indes das Lamento der Politiker,
die durch den Mob den englischen „Way of Life“ gefährdet sehen – die
Liberalität, die urbritische Überzeugung, dass der Einzelne sich frei
von Maßregelungen verwirklichen soll.
Dabei ist es gerade der britische „Way of Life“, der zum
kompletten Zusammenbruch der Ordnung beigetragen hat. Wer schockiert
ist, dass Jugendliche, die in England aufgewachsen sind, zu
brandschatzenden Brutalos werden, der muss seine legendäre Toleranz
besser justieren. Was das Land am Wochenende gesehen hat, ist ein
Kontrollverlust, der sich längst durch alle Teile des britischen
Lebens zieht. Mangelnde Impulskontrolle wird in England nicht etwa
Jugendlichen vorgeworfen, die sich trotz Rauchverbot im Bahnhof eine
Zigarette anstecken, sondern den wenigen Passanten, die den Mut
aufbringen, sie zurechtzuweisen. Die Öffentlichkeit, so der Konsens
auf der Insel, hat kein Recht, sich in das Verhalten Einzelner
einzumischen. Politisch korrekt ist Kritik allein im
parlamentarischen Ritual.
Wo Rügen verpönt sind, gedeiht aber Anarchie. An einem normalen
Samstagabend verwandelt sich fast jede englische Innenstadt zu einer
No-Go-Zone: Prügeleien, Menschen, die auf die Straße urinieren,
Saufgelage in der Öffentlichkeit. Die Normen des Akzeptablen haben
sich in England dramatisch verändert. Wann und warum, das muss das
Land selber analysieren. In Schulbüchern gibt es sie jedenfalls noch,
die Warteschlangen an Bushaltestellen. In der Realität muss man lange
danach suchen.
Schon in Schulen ist die laxe Attitüde Standard.
Nicht-konfrontativ soll das Lehrumfeld sein; ein Schulverweis ist oft
das einzige Mittel gegen Saboteure. Eltern, die es sich leisten
können, haben längst die Konsequenz gezogen: Privatschulen in England
boomen. Viele nehmen hohe Kredite auf, nur dass ihre Kinder aus dem
staatlichen System fliehen können. Aber klagen würden auch sie nicht
laut.
Fazit: Weil harte Durchgriffe nicht mehr recht zur modernen
Gesellschaft passen wollen, hat sich auch die Polizei angepasst. Es
ist kein Zufall, dass die Unruhen in Tottenham an der Zögerlichkeit
der Polizei eskaliert sind. Die Kontrolle hat die Gesellschaft nicht
am Samstag in Tottenham verloren, sondern schon vor langer Zeit.
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