WAZ: Eine neue Brille für die Blinden. Kommentar von Stefan Schulte

Dass von Steuersenkungen besonders die profitieren,
die viele Steuern zahlen, ist eine Binse der simpelsten Art. Umso
mehr erstaunt es, dass die Kanzlerin sich ernsten Blickes hinstellt
und erklärt, die Regierung werde vor allem Geringverdiener entlasten.
Wen glaubt sie, mit derlei Unfug zu überzeugen? Einem Geringverdiener
hilft eine Steuersenkung in etwa so viel wie einem Blinden eine neue
Brille. Wenn die Koalition also ein paar Milliarden in die Hand
nimmt, um die Steuern zu senken, landet zwangsläufig das meiste Geld
auf den Konten der Gutverdiener. Das kann man ja machen und sogar
rechtfertigen. Denn natürlich ist es ungerecht, wenn das Finanzamt
Lohnerhöhungen gleich wieder auffrisst. Nur muss die Regierung dann
auch sagen, dass sie um mehr Gerechtigkeit für die Mittel- und
Oberschicht kämpft. Und nicht für den Aufstieg der unteren
Einkommensschicht. Geringverdiener zu entlasten, ist gar nicht so
schwer. Sie zahlen gar keine oder wenig Steuern, aber vom ersten
verdienten Euro an satte Sozialabgaben. Wer im Monat 1000 Euro brutto
verdient, muss 206,25 Euro davon gleich wieder an die Sozialkassen
weiterreichen. Wer ihnen helfen will, muss diese Sozialabgaben
senken. Doch wer kurz vor CDU- und FDP-Parteitagen einen Steuerstreit
schlichtet, hat erkennbar die Parteiseele und nicht die des Volkes im
Sinn.

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