WAZ: Umdenken bei Großprojekten nötig – Kommentar von Dietmar Seher

Fast nehmen wir es ja amüsiert hin. Matthias
Platzeck hat bei Jauch erzählt, 60 bis 80 Kilometer (!) Kühlleitungen
seien nicht isoliert. Kleinkram, wenn schon die Rolltreppen auf dem
künftigen Berliner Hauptstadtflughafen zu wenig Stufen haben,
Regenwasser in die Hallen rauscht und der Rauch nicht abgesaugt
werden kann, sollte in den Terminals Feuer ausbrechen. Deutschland
ist dabei, seinen Ruf als Heimat der zuverlässig-sicheren
Ingenieurskunst zu verspielen: Der Flughafen in Berlin, der Bahnhof
in Stuttgart, die Oper in Hamburg, das WCCB-Handelszentrum in Bonn,
der Freizeitpark am Nürburgring, wo die größte Achterbahn der Welt
beim zweiten Probelauf explodierte. Der „Standort D“ kann offenbar
nicht mehr Großes funktionsfähig, in vernünftigem Zeitraum und zu den
errechneten Preisen errichten. Es macht wütend, wie egal dem
Aufsichtsratsvorsitzenden und Regierenden Bürgermeister das alles zu
sein scheint, wie hilflos sein Stellvertreter (und Nachfolger) im
Kontrollgremium reagiert. Wowereit, Platzeck – beide haben mit dem
Debakel von Schönefeld den Anspruch verspielt, führen zu können. Aber
ihr Rücktritt aus den politischen Ämtern alleine besserte nur wenig.
Deutschland braucht die Infrastruktur-Reform. Das ist nicht zu
allererst mehr Geld. Das ist ein anderer Weg, solche
Herausforderungen zu bewältigen. Mit mehr Bürgerbeteiligung – auch im
Internet – statt komplizierter, langwieriger
Planfeststellungsverfahren, denn große, teure Projekte sind nicht
mehr ohne die Menschen zu machen, die mit ihnen leben müssen. Mit
weniger Selbstbetrug und ehrlicheren Preisschildern von Anfang an,
denn heute stapeln Planer gerne tief. So täuschen sie Politik und
Parlamente, die sich gerne täuschen lassen, weil niedrigere Kosten
wiederum den Bürgern eher gefallen. Und mit anderer Selbstdisziplin.
Wer, wie in Berlin, 300 Sonderwünsche einfordert, während die Bagger
schon baggern, darf sich über ein zerstörendes Chaos nicht wundern.
Vielleicht hilft das Erschrecken über das Versagen an der Spree, ein
Bewusstsein für Kurskorrekturen zu wecken. Das, bitte, bevor das
globale Vertrauen auch in andere Produkte dieser Exportnation
versickert.

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