WAZ: Worte, die unter die Haut gehen. Leitartikel von Walter Bau

Nicht alle waren im Vorfeld begeistert von einer
offiziellen Gedenkfeier für die Opfer der Neonazi-Morde. Da war die
Rede von einer Feigenblatt-Veranstaltung, die das Versagen von
Polizei und Politik überdecken sollte, von einer Show, bei der sich
vor allem die Politiker selbst in Szene setzen wollten. Es kam
anders. Die eineinhalb Stunden im Berliner Konzerthaus bildeten eine
würdige Feier, von der vor allem die Worte der Betroffenen in
Erinnerung bleiben werden. Ismail Yosgat, der mit stockender Stimme
schilderte, wie sein tödlich getroffener Sohn in seinen Armen starb;
Semiya Simsek, die eindringlich die Qual beschrieb, jahrelang
falschen Verdächtigungen wegen des Todes des eigenen Vaters
ausgesetzt zu sein; Gamze Kubasik, die trotz der Wut über die
Ermordung ihres Vaters für ein friedliches Miteinander appelliert.
Das ging unter die Haut. Auch die Kanzlerin fand kluge Worte. Ihre an
die Hinterbliebenen gerichtete Bitte um Verzeihung für das
Unverzeihliche, die aufrichtigen Worte des Trostes – Angela Merkel
traf den richtigen Ton. Dies ist gut, und mehr darf man an einem Tag,
der ganz im Zeichen der Trauer steht, auch von einer Kanzlerin nicht
erwarten. Wichtig aber ist, dass mit dem gestrigen Tag die Debatte
über die Aufarbeitung der Mordserie nicht beendet ist – vielmehr muss
sie nun erst richtig beginnen. Denn noch sind wichtige Fragen offen.
So ist immer noch nicht geklärt, warum die rechtsterroristische
Mörderbande so lange und so ungehindert von Polizei und
Geheimdiensten töten konnte; es ist unklar, wie viele Helfer das
Neonazi-Trio hatte. Und: Sind die Versäumnisse der Geheimdienste
wirklich „nur“ Pannen, oder sind die Fahnder wirklich auf dem rechten
Auge blind? Da gibt es noch viel aufzuarbeiten. Die eigentliche
Arbeit muss aber weder in Parlamenten noch in Fahndungskommissionen
stattfinden – sondern in unser aller Köpfen. Billige Vorurteile,
Ausgrenzung im Alltag, Gleichgültigkeit und Gedankenlosigkeit bilden
einen gefährlichen Nährboden für rechtsextremes, fremdenfeindliches
Gedankengut. Auch dies hat die Gedenkfeier deutlich gemacht. Und auch
deshalb war sie wichtig. Fazit: Es war eine würdige Gedenkfeier, bei
der die Trauer im Mittelpunkt stand. Die Aufarbeitung der Mordserie
steht noch an. Aber Gefahr geht nicht nur von Mörderbanden aus,
sondern nicht zuletzt von den geistigen Brandstiftern.

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