Weser-Kurier: Der „Weser-Kurier“ (Bremen) kommentiert in seiner Ausgabe vom 5. April 2011 die Perspektiven der FDP:

Liberal oder lieb? von Joerg Helge Wagner

Nein, das Hauptproblem der FDP ist nicht ihr Ruf, für
marktradikale soziale Kälte zu stehen. Das Hauptproblem der Liberalen
ist, dass sich das Publikum fragt, wofür sie überhaupt stehen.
Besonders deutlich wurde das im baden-württembergischen Wahlkampf.
Spitzenkandidat Ulrich Goll ist dort so weit hinter sich selbst
zurückgetreten, dass man sich nicht nur als ausgewiesener Linker oder
Grüner gemeinsam mit der „taz“ fragen musste: Wozu noch FDP? Geradezu
hilflos reagierte Goll – als langjähriger Justizminister ja kein
unerfahrener Polit-Novize – auf Fragen nach den
Alleinstellungsmerkmalen seiner Partei: Man habe die größten
Zumutungen im Landespolizeigesetz und den Ankauf einer
Steuerhinterzieher-Datei in der Schweiz verhindert. Das ist schon
keine liberale Großtat. Wenn man aber weiß, dass sich die
Landesregierung die CD dann auf Umwegen im ebenfalls schwarz-gelb
regierten Niedersachsen besorgte, ist es nur noch peinlich.
Westerwelle wollte die FDP vom Ruch einer reinen „Funktionspartei“
befreien. Gemeint war damit, dass sich ihr Existenzgrund nicht auf
den eines Mehrheitsbeschaffers für CDU oder SPD beschränken dürfe.
Als Co-Pilot wollte man in Koalitionen auch mal den Kurs oder die
Geschwindigkeit korrigieren: gegen zuviel staatlichen
Interventionismus bei der SPD, gegen eine übertriebene
Sicherheitspolitik zu Lasten der Grundrechte bei der CDU. So weit, so
gut. Dann muss man aber auch die richtigen Ministerien besetzen, etwa
Finanzen und Inneres. Als Außenminister kann man zwar liberale
Traditionspflege betreiben, aber keine liberalen Schwerpunkte setzen.
Folglich verkämpfte sich Westerwelle immer wieder erfolglos jenseits
seiner Ressortgrenzen. Was nahezu unbemerkt blieb: Sein möglicher
Nachfolger Rösler machte derweil glasklar und knallhart originär
liberale Politik – in einem ungeliebten Ressort zwar, aber eben in
einem, wo sie möglich ist. Gegen das Sperrfeuer der CSU setzte er
eine verkappte Kopfpauschale bei den Kassenbeiträgen durch, im
Wortsinn marktliberal brach er per Gesetz das Preismonopol der
Pharmabranche. Aus liberaler Sicht ebenso erfolgreich setzte sich
Wirtschaftsminister Brüderle im Atomstreit gegen den
CDU-Umweltminister Röttgen durch. Man schielte nicht darauf, eines
fernen Tages womöglich ein zweites „Jamaika“ mit den Grünen zu
gründen – man stand dazu, sich von grünen und linken Positionen so
weit wie möglich fern zu halten. Angesichts einer zunehmend
sozialdemokratisierten Union und eines unter Steuer- und
Abgabenlasten zunehmend frustrierten Mittelstandes hätte man das auch
mit etwas Stehvermögen durchhalten können. Man wäre nicht beliebter
geworden, hätte aber Glaubwürdigkeit und damit Substanz bewahrt.
Selbst die Vokabeln „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ hätte man
häufig verwenden und damit SPD und Grünen streitig machen können:
Gerechtigkeit für die Leistungsbereiten und Solidarität mit all
jenen, die sich nicht in jeder Lebenslage allein auf Vater Staat
verlassen wollen. Wenn Westerwelles Nachfolger ausgerechnet hier
nachgeben, beschleunigen sie nur den Niedergang des deutschen
Liberalismus. Allein das können sie sich bei den Grünen abschauen:
Wieder rein in die Parlamente kommt man bloß, wenn man seine
Grundhaltung nie aufgibt. Die FDP muss ihr Credo also auf möglichst
viele Politikfelder – nicht bloß Steuern, Wirtschaft, Bürgerrechte –
ausdehnen. Rösler hat gezeigt, dass dies möglich ist – und sich das
Liebsein fürs Privatleben aufgehoben.
joerg-helge.wagner@weser-kurier.de

Pressekontakt:
Weser-Kurier
Produzierender Chefredakteur
Telefon: +49(0)421 3671 3200
chefredaktion@Weser-Kurier.de