Westdeutsche Zeitung: Die Bürger können den Gürtel nicht noch enger schnallen Urnengänge sind Ohrfeige für Merkel = von Anja Clemens-Smicek

Quo vadis, Europa? Diese Frage dürfte
insbesondere Angela Merkel nach den Wahlen in Frankreich und
Griechenland umtreiben. Denn in letzter Konsequenz waren beide
Urnengänge auch eine Ohrfeige für die Politik der mächtigsten Frau
Europas. Haushaltssanierung und Reformen sind fraglos die wichtigsten
Elemente, um der europäischen Schuldenkrise Herr zu werden. Doch mit
dem kompromisslosen Konsolidierungskurs, den die Bundeskanzlerin den
europäischen Schuldenstaaten diktiert, hat sie die Leidensfähigkeit
der Menschen ausgereizt – und schlichtweg überschätzt. In
Griechenland braut sich durch die harten Sparauflagen der
internationalen Gläubiger und die tiefste Rezession seit Ende des 2.
Weltkriegs ein explosives Gemisch zusammen. Die Arbeitslosigkeit ist
so hoch wie seit 60 Jahren nicht mehr, die Einkommen sinken rapide,
die Mittelschicht ist quasi weggebrochen. Auch in Frankreich haben
die Menschen den wirtschaftlichen Abstieg vor Augen. Sowohl der neue
französische Präsident François Hollande als auch die radikalen
Kräfte in Griechenland haben ihren Erfolg vor allem dem Versprechen
zu verdanken, der Gängelung durch Brüssel ein Ende zu bereiten.
Richtig ist, dass Haushaltssünder diszipliniert werden müssen. Die
Bürger aber können den Gürtel nicht noch enger schnallen. Auch
deshalb wird es nicht leicht für Angela Merkel, das europäische
Schiff auf Kurs zu halten. Mit dem Abschied von Nicolas Sarkozy
bricht der Kanzlerin ein wichtiger Verbündeter im Kampf für den
Fiskalpakt weg. Trotzdem wird der berühmt-berüchtigte
deutsch-französische Motor nicht ausgehen. Zum einen, weil längst
nicht jedes Wahlversprechen Hollandes der bitteren Realität und ihren
Zwängen standhalten wird. Zum anderen, weil Merkel wie auch der neue
Präsident wissen, dass sie eine Schicksalsgemeinschaft bilden, ohne
die Europa nicht aus der Krise kommt. Dennoch müssen Merkel und alle
anderen europäischen Staats- und Regierungschefs die Bürger künftig
besser mitnehmen. Sie müssen die richtige Balance finden zwischen
Haushaltsdisziplin, Wachstum und Konjunkturprogrammen. Die Zeit
drängt. Und wer zu spät kommt, den bestraft – wie man am Sonntag
erleben konnte – der Wähler.

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