Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Berlusconi

Rom spielt Vabanque. Der
Ja-aber-nicht-sofort-Rücktritt von Ministerpräsident Silvio
Berlusconi riskiert Italiens letzten Kredit auf den Geldmärkten.
Zehnjährige Staatsanleihen schossen gestern gegen Mittag auf 7,5
Prozent – Vollalarm für Europas Finanzfeuerwehr. Seit Griechenland
Anfang 2010 kollabierte, gilt die Sieben-Prozent-Marke als rote
Linie. Immer, wenn ein Euro-Land diese Schwelle überschritt, musste
es unter den Rettungsschirm flüchten. Jetzt auch Italien? Fachleute
bewerten Europas drittstärkste Volkswirtschaft als zu groß, um unter
dem EFSF noch Schutz zu finden. Der Stiefelstaat hat einen
Schuldenberg, der dreimal so groß ist, wie der von Griechenland,
Portugal und Irland zusammen. Hinzu kommt: der EFSF hat
Schwierigkeiten die erforderlichen Gelder zusammen zu bekommen.
Außerdem: Italien bürgt selbst für ein Zehntel der Garantien. Würde
Italien von EFSF-Bürgen zum Schuldner, müssten Deutschland oder das
instabile Frankreich ihre Zusagen erhöhen. Die Finanzmärkte müssen
nicht das letzte Wort haben. Das Vorgehen des Noch-Staatschefs ist
raffinierter und aus deutscher Sicht begrüßenswerter, als das
ruinierte Ansehen Berlusconis auf den ersten Blick vermuten lässt.
Erst abzutreten, wenn das Parlament harte Sparbeschlüsse und scharfe
Reformgesetze beschlossen hat, zeugt von Weitsicht. Denn Europa hat
keine Zeit für Regierungskrisen – schon gar nicht in Rom. Sollte, wie
gestern Abend verabredet, das Reformgesetz schon Montag zur
Abstimmung stehen, würde Berlusconi mit dem Vortritt der Politik vor
dem Rücktritt des Regierungschefs seinem Land einen letzten Dienst
erweisen. 1994, bei dessen Eintritt in die Politik, wurde Berlusconi
in Deutschland gerne als eine Mischung aus Leo Kirch, Helmut Kohl und
italienischem Macho verkannt. Viele haben sich dieses Bild viel zu
lange bewahrt. Jetzt heißt die bange Frage: Was kommt danach? Die
Rückkehr zur Drehtür am Amtssitz des italienischen
Ministerpräsidenten will niemand, ist aber am wahrscheinlichsten.
Knapp 60 Kabinette hat Italien seit 1945 gesehen, bevor der
»Cavaliere« kam. Er ist länger als jeder andere im Amt. Mit ihm
erlebte das Land Beständigkeit und wirtschaftlich seine besten Jahre.
Lange vor dem deutschen Jobwunder gab es das italienische, der arme
Süden fand erstmals Anschluss und der Euro ließ schnell vergessen,
dass es zuvor eine ziemlich schwindsüchtige Lira gegeben hatte.
Versäumt wurde, das Niveau zu sichern. Dabei war die auch von
Berlusconis zu verantwortende Schuldenpolitik kein europäischer
Sündenfall, sondern Standard auf dem gemeinsamen Markt von Lissabon
über Berlin bis Athen. Und Berlusconi? Mit ihm darf weiter gerechnet
werden – vor Gericht, in den Hinterzimmern der Politik und, nicht
auszuschließen, 2013 im Palazzo Quirinale auf dem Stuhl von
Staatspräsident Giorgio Napolitano.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261