Westfalen-Blatt: Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zu Boetticher und Guttenberg

Die »Bild«-Zeitung nannte den Fall gestern »die
Skandalgeschichte dieses Sommers«. Auch wenn das vielleicht zu hoch
gegriffen ist – das Verhältnis Christian von Boettichers mit einer
16-Jährigen und sein Verhalten in den vergangenen Tagen haben
Auswirkungen weit über Schleswig-Holstein hinaus. Sie fügen dem
ohnehin angeschlagenen Erscheinungsbild der gesamten CDU weiteren
Schaden zu. Ob CDU oder CSU – nicht nur Spötter fragen sich seit
langem, ob das »C« in den Parteinamen überhaupt noch mit Inhalt
gefüllt ist. Welche christlichen Werte sind es denn, für die die
Union steht, wenn für einige ihrer Spitzenrepräsentanten nicht einmal
etwas so Grundlegendes wie Wahrhaftigkeit dazugehört? Denn der
Taschentuch-Auftritt Christian von Boettichers am Sonntagabend muss
seit gestern in einem ganz neuen Licht erscheinen:
Schleswig-holsteinische Zeitungen enthüllten, der 40-Jährige habe im
Oktober 2010 in den USA seine langjährige Freundin geheiratet, eine
Mitarbeiterin der Hamburger CDU. Mit ihr soll er vorher elf Jahre
zusammengewesen sein. Am Sonntagabend hatte sich der 40-Jährige in
seiner Rücktrittsrede als Junggeselle geriert. Gestern ging
Christian von Boetticher, der sich noch vor wenigen Tagen in einem
Gastbeitrag für die »Financial Times Deutschland« über Moral
ausgelassen hatte, auf Tauchstation. Seine Facebook-Seite war nicht
mehr online, und sein Wahlkreisbüro wollte zu den Hochzeitsberichten
keine Stellung nehmen. Der Fall erinnert an die Plagiatsaffäre des
Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg: Tarnen und
täuschen solange es geht, und nur das zugeben, was ohnehin nicht mehr
dementiert werden kann. Mit christlichen Werten hat das nichts zu
tun. Nun mag man einwerfen, zu Guttenberg und von Boetticher seien
Einzelfälle, und schließlich hätten sie ja die Konsequenzen gezogen
und seien zurückgetreten. Das Problem ist allerdings, dass in beiden
Fällen die Verfehlungen sehr schnell von den jeweiligen Parteien
relativiert worden sind: Ließ CSU-Chef Horst Seehofer nach
Guttenbergs Rücktritt immerhin noch eine Woche verstreichen, bevor er
die Rückkehr des smarten Adeligen in die Politik forderte, so
brauchte die CDU jetzt nur zwei Tage, um von Boetticher quasi zu
rehabilitieren: Auf jemanden mit seinen Qualitäten könne man nicht
verzichten, eine Rückkehr in ein Parteiamt sei wahrscheinlich,
verkündete gestern Hans-Jörn Arp, Schatzmeister der Nord-CDU und wohl
künftiger Fraktionschef. Mit dieser Ignoranz und Inkonsequenz kann
die Union, die sich gerne als einzige Wertebewahrerin im politischen
Spektrum sieht, selbst angestammte Wähler vergraulen. Denn die
meisten Menschen haben feine Antennen für Moral, Anstand und
Gerechtigkeit. Sie erwarten nicht, dass Politiker Heilige sind. Aber
sie möchten auch nicht von ihnen für dumm verkauft werden.

Pressekontakt:
Westfalen-Blatt
Nachrichtenleiter
Andreas Kolesch
Telefon: 0521 – 585261